Estlands Geburtstag und ein Tag im Süden




Was macht man so als Student in Zeitnot, wenn man gerade eine der schlimmsten Prüfungen aller Zeiten hinter sich gebracht hat und fünf Tage frei hat?
Wie wäre es mit Mittagessen am Gardasee und Abendessen auf einer Alm in den bayrischen Alpen?
Und dann wäre da noch… Estlands 100. Geburtstag.
Bereits 1905 begann die erste große Revolution in Estland, das zu der Zeit teilweise zu Livland gehörte. (Die zweite große Revolution, auch „Singende Revolution“, führte 1991 zur Unabhängigkeit von der Sowjetunion und ist auch als „Wiedererlangung der Unabhängigkeit“ bekannt, da Estland nicht zur Sowjetunion gehörte, sondern nur besetzt war, mal wieder…) 1917 ging das Zarenreich Russland zu Ende und in Estland fanden erstmals Wahlen statt. Obwohl nun die Deutschen das Land besetzen, wird am 24. Februar 1918 die Unabhängigkeit verkündet und die „Interwar Independence“ beginnt (und dauert bis 1940). Leicht hat es die kleine Nation noch nicht, und doch: Estland ist ein unabhängiges Land. 

Ein Insider-Foto aus dem ERM...

2018 ist also ein bedeutendes Jahr – Estland feiert 100 Jahre Unabhängigkeit. Während in den deutschen Medien kaum etwas davon zu finden ist (nur eine kleine Nachricht auf der Homepage des ARD), berichten die estnischen Zeitungen und TV-/Radiosender heute ausnahmsweise nicht von den GroKo-Verhandlungen in Deutschland, sondern von der Zeremonie am Pikk Hermann in Tallinn, wo wie jeden Tag zu Sonnenaufgang die Flagge gehisst wird. Hunderte haben sich heute am Fuß des Turmes versammelt, gekleidet in Tracht oder in den Nationalfarben blau, schwarz und weiß, schwenken Flaggen, singen inbrünstig die Hymne „Mu isamaa, mu õnn ja rõõm“ (Mein Heimatland, mein Glück und meine Freude), gefolgt von einer Militärparade und ich gucke auf Twitter, Instagram und ETV zu – von Norditalien aus.

Pikk Hermann im Dezember

Sechs Stunden Zugfahrt von Hannover nach Oberbayern liegen hinter mir, viereinhalb Stunden im Auto – und endlich wieder richtig gute Pasta, al dente natürlich. Draußen: Der Gestank der Gerbereien, die vom Veneto aus ganz Europa mit Leder versorgen. Schön ist es nicht, was man von den Straßen aus in dieser Region sieht – eine Gerberei nach der anderen, alles Industrie. Dabei muss man nur abbiegen und durch die kleinen Ortschaften fahren, dann sieht man das Italien der Postkarten, das Italien aus den Illustrationen von Cornelia Funke. Wo das Dorf sich an einen Hügel schmiegt, oben guckt der Kirchturm hervor. Und während sich die Temperaturen in Deutschland den minus 15 nähern, in Estland den minus 30, kann ich hier bei angenehmen zwölf Grad die Jacke offen lassen. 
Piazza von Arzignano

Der größte Event der 100-Jahr-Feier findet in Tartu statt, genauer gesagt im Eesti Rahva Muuseum, kurz ERM, dem Nationalmuseum. Das Teater no.99 spielt Theater, natürlich gibt es ein Konzert, und Präsidentin Kersti Kaljulaid hält eine Rede, logisch. Warum die Feier nicht in der Hauptstadt Tallinn stattfindet? Kaljulaid wollte es so. Tartu ist ja kulturell die Hauptstadt Estlands, könnte man sagen. Der „Tartu Peace Treaty“ wurde hier unterschrieben. Dieser Friedensvertrag beendete den Unabhängigkeitskrieg Estlands gegen Sowjet Russland am 2. Februar 1920. Und das Nationalmuseum, das die Geschichte und die Schätze des Landes in einzigartigen Sammlungen ausstellt, wurde ja erst im Oktober 2016 in dem neuen, großen Gebäude wiedereröffnet. Es gibt also eine Menge Gründe! Auch soll entweder Tartu oder Narva EU-Kulturhauptstadt 2024 werden. Tartu hätte es verdient, das steht fest, aber Narva könnte die Unterstützung (finanziell und in den Medien) gebrauchen, die stark russisch geprägte Stadt beginnt gerade ihren Aufschwung.

Kaljulaid und ihr Mann im ERM. Foto: ERR

Während ich auf die Fotos und Berichte meiner Freunde warte, die im ERM live dabei sind, spaziere ich durch Arzignano, die norditalienische Stadt, die aus meiner Kindheit nicht wegzudenken ist. Italien ist ja beim Umweltschutz nicht gerade als Vorreiter bekannt, aber so langsam kann man auch hier Veränderungen beobachten. Es gibt einen Bioladen, „La maresina“, und in der Bar „Le Cicche“ bekomme ich veganes Gebäck. In Verona werde ich nicht komisch angeguckt, als ich sage, dass ich für meine Einkäufe keine Tüte brauche, im Shopping Center gibt es ein veganes Café.
Um nicht in den Bettenwechsel-Verkehr am Brennerpass zu kommen, trödle ich mich langsam weiter nach Norden. Die Panorama-Straße am Ostufer des Gardasees entlang. Dort werde ich freudig überrascht: Obwohl der Kellner in der kleinen Pizzeria mitbekommen hat, dass ich Deutsche bin, spricht er Italienisch mit mir! Danke! Offiziell beginnt Italien ja erst südlich des Lago di Garda, alles nördlich davon ist in der Hand der deutschen Touristen. Das erzählt mir natürlich auch der Kellner. Ich solle doch im Sommer kommen, wenn es wärmer sei, und alles voller Deutscher. Okay. Das ist aber doch der Grund, warum ich nicht in der Hochsaison hier bin!

Lagi di Garda. Garda.

Tatsächlich stehe ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht am Brenner im Stau, dafür an der Grenzkontrolle, als es nach Deutschland geht. Da ich aber offenbar nicht so aussehe, als hätte ich Flüchtlinge an Bord, werde ich schließlich durchgewunken.
Und kann den Schnee genießen, am nächsten Nachmittag einmal kurz auf die nächste Alm flitzen, um dort zu Abend zu essen.


Es ist schon praktisch, in Bayern zu leben. Und italienische Freunde zu haben.
Was für ein Wochenende. Was für ein überfüllter ICE am Dienstag auf dem Weg zurück nach Hannover. Und ich mit Büchern in drei Sprachen im Gepäck.
Palju õnne sünnipäevaks – Alle Gute zum Geburtstag! Lang lebe Estland! Elagu Eesti!

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