Tartu, ich habe dich vermisst
Ich
steige aus dem Flugzeug und laufe unter den „Eesti 100“ Plakaten hindurch, die
das Gate schmücken. Zielstrebig durch den kleinen Flughafen von Tallinn, am
Gepäckband vorbei, die Rolltreppe nach unten – und stehe vor einer Absperrung.
Erst da fallen mir die Schilder auf, die alle zwei Meter darauf hinweisen, dass
es zur Bushaltestelle jetzt in die andere Richtung geht. Stimmt, da war was.
Diese Baustelle letztes Jahr… An der neuen Busstation hält jetzt auch die Tram,
wann welcher Bus kommt, wird auf Bildschirmen angezeigt, und die Wartezeit kann
man auf einem Platz verbringen, der die Verbindungen europäischer Städte zeigt.
Zweieinhalb Stunden später bin ich in Tartu, hungrig, müde, und glücklich. Riho
holt mich ab und wir machen uns auf die Suche nach etwas zu essen. Ersteinmal
macht er mich auf die alkoholischen Getränke aufmerksam, die im Supermarkt im
Angebot sind – also fast alle. „Das ist, weil die Steuer auf Alkohol erhöht
wurde. Jetzt ist alles im Angebot und kostet daher doch nicht mehr“, erklärt
er.„Was sollen wir kochen? Es gibt so viele Möglichkeiten!“ Dann fällt ihm
wieder ein, dass ich kein Fleisch esse, und plötzlich haben wir nicht mehr so
viel Auswahl. Wir braten Gemüse in Kokosöl und stampfen Kartoffeln – und weil
ich auch keine Sahne oder Butter in den Kartoffelbrei möchte, nehmen wir
Avocado und Brokkoli. Geht auch. Kommt aber nicht auf’s Selbe raus!
Madis
sitzt noch in einer Konferenz, über die er morgen im Radio berichten muss, und
als er es sich endlich auch bei uns vor dem Kamin gemütlich machen kann, fangen
die Jungs sofort an, darüber zu diskutieren.
Da
fast das gesamte Holz, das in Estland geschlagen wird, nach Skandinavien
exportiert wird, wo es dann zu IKEA-Möbeln und Papier wird, hat die estnische
Regierung beschlossen, eine eigene Papierfabrik zu bauen, um das Holz schon
hier „aufzuwerten“. Es gibt zwar zwei Papierfabriken in Estland, aber die sind
klein, die Technik ist veraltet, die Luft ist schlecht. Wo soll die neue Fabrik
hin? Nach Tartu, da gibt es etwas in dieser Richtung noch nicht. Natürlich sei
es gut, wenn das Holz nicht mehr nach Skandiinavien exportiert würde. Aber wird
der Fluss nicht darunter leiden? Sollte man nicht ersteinmal herausfinden, was
die Folgen der Papierproduktion wären, für die Stadt und für die
Wasserqualität? Und wer entscheidet dann, ob die Studien objektiv sind, wenn
schon auf der Konferenz alle Lokalpolitiker und Wissenschaftler so emotional
wurden? Das eigentliche Problem an dem Plan ist aber: die Regierung entscheidet,
ob und wo diese Fabrik gebaut wird. Weder der Stadtrat von Tartu noch die
Bürger haben ein Mitspracherecht.
Das
zweite große Diskussionsthema während meines Kurzurlaubs hier: die europäische
Kulturhauptstadt. Ich hatte bisher immer nur vage gewusst, dass es das gibt,
aber für Estland ist es eine große Sache. 2024 ist es hier wieder so weit, und
da Tallinn bereits 2011 den Titel hatte, sind jetzt Narva und Tartu im Rennen…
ich bin live dabei, als der Slogan für Tartus Bewerbung vor hochkarätigem
Publikum verkündet wird. „Arts of Survival“. Na, ob das so ein tolles Motto
ist? Tartu kämpft ja schließlich nicht ums Überleben, sondern blüht – es kann
also auch hierüber wild diskutiert werden. Denn ja: auch die Esten können
streiten! Das offizielle Video dazu gibt’s hier: https://www.youtube.com/watch?v=HEFOtF65PL8
Den Weltfrauentag nehmen die Esten auch sehr ernst. Die
Männer sind angehalten, allen Kolleginnen Blumen mitzubringen. Eine meiner
Freundinnen freut sich besonders darüber, dass ihr zum Tag der Frau gratuliert
wird und sie eine Blume bekommt – denn sie hat erst vor Kurzem ihren neuen
Perso bekommen, auf dem sie als Frau ausgewiesen ist und ihren Kollegen
eröffnet, dass sie trans ist. „Happy International Women’s Day!“, wünschen mir
auch Madis und sein Mitbewohner. „Komisch, dass du das auch so sagst“, merkt Madis
an. „Zu deiner Freundin hab ich nur Happy Women’s Day gesagt, ohne das International.
Du auch, oder?“
Tanel nickt. „Aber Marina ist ja auch international…“
Was hat sich in Tartu verändert, seit ich das letzte Mal
hier war? Das Möku, meine Lieblingsbar, hat eine neue Einrichtung. Die Sängerbühne ist wie jeden Winter ein Eislaufplatz, auch der
Sportplatz einer Schule ist jetzt weniger zum Fußballspielen als zum Eishockey
geeignet. Die Bibliothek der Hauptuni ist immer noch wegen Renovierung geschlossen. Nicht, dass hier im letzten Jahr besonders viel renoviert wurde...
Im Aparaaditehas, dem alten Fabrikkomplex, der jetzt einer
der hipsten Orte der Stadt ist mit kleinen Läden, Bars, Cafés und so weiter,
hat ein Bioladen aufgemacht, der auch einige Produkte zum Abfüllen anbietet (https://www.facebook.com/mahemarkettartu/).
Das „Trüki- ja Paberimuuseum“ (http://www.trykimuuseum.ee/portfolio/information-in-english)
ist ein paar Meter weiter gezogen und im „slow“ Laden kann ich mich mit
upcycling-Notizbüchern und einem „Upshirt“ von der estnischen Designerin Reet
Aus eindecken (https://upshirt.org/).
Estland gibt sich alle Mühe, nachhaltig zu sein!
Auch mein Lieblingsrestaurant, das „Pahupidi Kohvik“ („Auf-dem-Kopf-Café),
in dem alles vegan und glutenfrei ist, feiert bereits seinen zweiten
Geburtstag.
Ein Trampelpfad über den Fluss. Ganz normal. |
„Wenn das eine Art Schutzmechanismus ist, warum macht ihr
dann keine Witze über Stalin?“, frage ich. So genau wissen sie das auch alle nicht.
Es gibt Russenwitze, aber die sind bei den Leuten auf dieser Party nicht so
beliebt. Vielleicht ist es noch nicht lange genug her. Oder nicht so leicht zu
parodieren. Oder zu nah. Oder zu schlimm.
Eisskulptur auf dem Rathausplatz. Während ich hier bin, beginnt sie langsam aufzutauen, als der Frühling Einzug hält. |
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