Jaanipäev kauges külas – Mittsommer auf dem Land, Teil 1
„Kauges külas“ von Curly Strings ist eine inoffizielle Hymne
Estlands. Jeder kennt den Text auswendig. Ich natürlich auch. Ich übersetze es
mal frei mit „Auf dem Dorf draußen“. Und da soll es für die Jaanipäev-Feier
hingehen.
Tartu ist am 23. Juni so leer, wie ich es nie zuvor erlebt
habe. Nur die Straßen aus der Stadt raus sind voll. Die Läden, die sonst sieben
Tage die Woche bis 22 Uhr geöffnet sind, schließen schon am frühen Nachmittag.
Ja, es ist Mittsommer, oder Sankt-Johannis-Tag, wie es korrekt übersetzt heißt.
Die Wenigsten bleiben dafür in der Stadt, wer kann, fährt zu Freunden und
Verwandten in die Dörfer und aufs Land.
Zuerst wollen wir Madis‘ Familie besuchen. Seine kleine
Schwester Marilin ist meine strengste Estnisch-Lehrerin und beim jüngsten
Bruder bin ich gezwungen, estnisch zu sprechen, da er noch kein Englisch kann.
Da in sein Heimatdorf nur einmal täglich ein Bus fährt, und dieser dann keine
zehn Minuten später wieder zurück, trampen wir. Estland ist ein
Hitchhiking-Paradies. Außerdem genießen wir noch mein Anfängerglück. Wir stehen
keine fünf Minuten am Straßenrand, als schon das erste Auto anhält. Eine
religiöse junge Familie, für die Madis aus einem Selbsthilfe-Buch vorliest,
während ich dem Baby immer und immer wieder sein Plüschtier aufhebe. In der
Nähe des Städtchens Elva steigen wir wieder aus. „Das ist der schlechteste Spot
zum Hitchhiken, an dem wir nur landen konnten!“, jammert Madis. Fünf Minuten
später sitzen wir im nächsten Auto.
Der Weißrusse hat sein gesamtes Leben in Estland verbracht
und spricht die Sprache ungefähr so schlecht wie ich. In Rõnga lässt er uns
raus. In dem Dorf auf halber Strecke zwischen Tartu und Tõrva, unserem Ziel,
das eigentlich nicht viel mehr als eine große Kreuzung ist, gibt es angeblich
sehr guten Kaffee und Fleisch-Teigtaschen. Nicht, dass ich das beurteilen
könnte. „Ach, eins noch“, der Fahrer stößt die Tür nochmal ein Stück weit auf.
„Gott segne euch.“
Was ist eigentlich auf diesem Trip los? Estland ist das
unreligiöseste Land Europas, eines der atheistischsten Länder der Welt, und
jetzt habe ich schon drei gläubige Christen getroffen?
Es dauert nicht lang, da werden wir wieder aufgepickt und
bis nach Tõrva gebracht. Mit Kirschen und Gurken aus dem eigenen Garten, Kuchen
und selbstgemachtem Apfelsaft empfangen, und weil ich den Kuchen nicht esse,
wird mir extra noch Gemüse gebraten. Kurz darauf fängt Madis‘ Vater auch schon
an, den Grill vorzubereiten, während mir die drei Kinder so langsam und
deutlich wie möglich die Regeln eines Spiels erklären. „Ich habe heute zwei
tolle Sachen gelernt“, sagt Madis später stolz. „Zwei meiner kleinen
Geschwister können Englisch und sind nur zu schüchtern, es auch zu sprechen,
und Marina versteht eigentlich ganz gut estnisch.“
Nachdem wir uns ausgetobt haben, holt Marilin ein Spiel aus
dem Regal und schiebt mir Kärtchen hin. „Lehm“, sage ich und zeige auf das Bild
einer Kuh. Sie nickt erfreut. „Sidrun.“ Zitrone. „Ja palju?“, fragt sie. „Und
mehrere?“ – „Sidrunid.“ Schnell haben wir zwei Haufen gebildet – Wörter, die
ich schon kenne, und Wörter, die ich jetzt neu lerne. Sie und ihr kleiner
Bruder haben einen Heidenspaß dabei, dass ich das „õ“ in Wörtern wie „ujumisrõngas“
(Schwimmreifen) so schlecht ausspreche und mir „kindad“ – Handschuhe – einfach
nicht merken kann. „Putukad“, ist auch so ein Wort, das nicht in meinen Kopf
will – Insekten. Und natürlich das Dilemma mit den Hosen: „pikad püksid“ –
lange Hosen, das weiß ich ja, aber wie war das mit den kurzen? Ach ja:
„lühikesed püksid“. Schnell brummt mir der Kopf, und die Kinder kugeln sich auf
dem Boden, als ich schon wieder zu dem Bild mit der Jeans nur „die anderen
Hosen“ sage oder aus Verzweiflung Wörter wie „mängulaps“ erfinde – „Spielbaby“
(Puppe). Zum Glück gibt es jetzt Essen: Fisch, Fleisch, gegrillte Zwiebeln,
Ananas, Paprika, Schokolade, Nüsse, Brot,…
Eine Stunde später steigen wir in den Bus nach Tartu – und machen
uns von dort wieder auf den Weg zu unserem zweiten Ziel des Tages…
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