Sunrise, Sunset





 Zweihundert Fotos von Pagoden im Sonnenaufgang. Hundert Fotos von Pagoden im Sonnenuntergang. Spätestens am zweiten Tag in Bagan fragt sich eigentlich jeder, warum er überhaupt noch fotografiert. Es ist wunderschön, aber doch auch irgendwie immer das Gleiche. 




Ein Stupa enthält eine Reliquie und man kann sie nicht betreten. Eine Pagode hat vier Eingänge, einen in jeder Himmelsrichtung, und man kann in einem äußeren Gang einmal herum gehen (im Uhrzeigersinn, meditierend), wird dabei von vier großen und zahlreichen kleinen Buddhastatuen beobachtet, und auch sie enthält meistens eine Reliquie, etwa Haare oder einen Zahn von Buddha. Wer sein Karma verbessern will, kann, je nach Budget, einen Gebetsschal für eine Buddhastatue spenden, eine Marmorstatue, oder gleich eine Pagode. Genau das passiert in Bagan seit etwa eintausend Jahren – und so entstehen in der Steppe zwischen den über 2000 alten Pagoden immer noch neue. Ein Tempel ist dann nochmal eine Nummer größer. Auch er hat vier Eingänge mit jeweils einer großen Buddhastatue, jedoch zwei Gänge, die im Quadrat um das Innere herum führen. Der äußere Gang ist für ganz normale Buddhisten, die vier großen Buddhas lächeln mit geschlossenen Augen auf den Betenden herunter. Der innere Gang ist den Mönchen vorbehalten. Auf sie sehen die Buddhas ernst herunter. Man kann an diesem Phänomen erkennen, ob die Statuen noch Originale sind, wie im großen Ananada-Tempe, oder nachgebaut – denn heutzutage wird sich meist nicht mehr die Mühe gemacht, den Statuen ein sich je nach Blickwinkel veränderndes Gesicht zu geben.
Die sakralen Gebäude sind fast alle aktiv. Menschen kommen zum Beten, Meditieren, oder einfach, um sich zu treffen, für Hochzeitsfotos und Picknicks. Auf dem Weg zum Eingang muss man sich an Souvenirläden vorbeikämpfen und Ständen für Opfergaben – Blumenketten, Gebetsschals, Räucherstäbchen, Lebensmittel, Buddhafiguren, Gebetsketten,… von andächtiger Stimmung keine Spur. Buddhismus im Alltag ist laut, bunt und gesellig.
lächelnder Buddha im Ananda-Tempel...

...und ernst blickend, wenn man ihm näher kommt
Eine Pagode für den Sonnenaufgang finden, eine Pagode für den Sonnenuntergang finden. Die mystische Stimmung genießen.
Alternativ kann man auch ca. 70 Kilometer Richtung Süden fahren, zum Mount Popa, um den Sonnenuntergang mit einer noch weiteren Aussicht zu erleben. Auf dem Weg dahin begegne ich zum ersten (und letzten) Mal in Myanmar Bettlern.
Zuerst denke ich, die Frau winkt einfach. Vielleicht sucht sie eine Mitfahrgelegenheit. Doch der Mann ein paar Meter weiter streckt auch die Hand aus, steht aber nicht auf. Alle paar Meter steht jemand mit ausgestrecktem Arm, abgemagert, ausgezehrt, den longyi unordentlich geknotet, die Zähne kaputt, die Haut ausgedörrt. Manche Menschen sind so dünn, dass ich glaube, sie sitzen, weil die Kraft nicht zum Stehen reicht. Alte Männer, mittelalte Frauen, Kinder, junge Familien. Die Straße zum Mount Popa ist eine Allee, die statt von Bäumen von hungernden Menschen gesäumt wird. Da die Buddhisten den Armen spenden, um ihr Karma zu verbessern, eignet sich die Umgebung eines Wallfahrtsortes natürlich gut zum Betteln. Ein entgegenkommendes Auto öffnet eine der vier getönten Fensterscheiben einen Spalt weit, es fliegen Geldscheine heraus. Das Auto hält nicht an.
Der Minivan mit Touristen, in dem ich mich befinde, schlängelt sich hupend zwischen Marktständen mit Opfergaben und Souvenirs vorbei, bis er eine Stelle zum Parken findet. Am Fuß des Berges geben wir unsere Schuhe ab. Die nächsten 737 Höhenmeter haben wir barfuß über Treppen zurück zu legen. Begleitet werden wir dabei von jeder Menge gieriger Affen und Kindern und Jugendlichen, die die Stufen von den Affenexkrementen befreien und um „donation for cleaning“ bitten.
Eigentlich heißt der inaktive Vulkankegel Taung Kalat, und gilt als Wohnstätte der 37 Nats, einer Art Geister im burmesischen Buddhismus. Wir haben Glück, weder werden wir von Affen beklaut, noch scheinen wir bei den Nats in Ungnade gefallen zu sein, und schon nach kurzer Zeit erreichen wir verschwitzt von den 777 Treppenstufen (ich habe nicht nachgezählt…) den Gipfel und die Tuyin-Taung-Pagode. Ironischerweise ist die Aussicht hier nicht mehr so atemberaubend, wenn man schon auf mehrere Gebäude in Bagan geklettert ist, um von dort den Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang zu beobachten…
Taung Kalat, genannt Mount Popa
 Die Bagan-Ebene ist die touristischste Gegend Myanmars, aber auch hier ist die Kultur noch unverfälscht. Die Menschen tragen ihre longys und Thanaka im Gesicht, fahren auf Mopeds oder in Pferdekutschen. In Myanmar kann man quasi alles anbauen, von Mais bis Guaven, von Kürbis bis Mango. Nur rund um Bagan ist es ganzjährig zu heiß und zu trocken für den Reisanbau. Trotzdem ist der natürlich Grundnahrungsmittel. Mittags esse ich mit ein paar Leuten aus dem Hostel in einem kleinen Lokal an einer Straßenecke. Austauschstudenten aus Europa, die sich schon früher mal irgendwo auf der Welt begegnet waren und jetzt von Singapur aus Kurztrips in andere asiatische Länder machen. Für 1000 Kyat (also etwa 70 Cent) pro Person gibt es einen Teller Reis für jeden, Grüntee, soviel wir wollen, und verschiedenes Gemüse, gebraten, frittiert oder sauer eingelegt, scharf oder nicht ganz so scharf, wird auf dem Tisch verteilt und nachgefüllt, bis wir so satt sind, dass wir eigentlich nicht mehr aufstehen wollen. Auf dem Fernseher über den Tischen läuft „Mission Impossible“ mit burmesischen Untertiteln. Der hintere Teil des Lokals ist die Wohnung der Inhaber, Bücher und Kleidungsstücke liegen herum, eine Frau liegt auf einer Matratze hinter unserem Tisch und döst beim Fernsehen ein. Abends schließe ich mich einer anderen Gruppe Backpacker an, deren erste Frage lautet, in welches Land ich denn als nächstes reisen werde. Die meisten hier sind nicht in Myanmar, sondern in Südostasien unterwegs, monatelang. Nach dem Abi, nach dem Studium, oder nachdem sie ihren Job gekündigt haben. Mit diesen Reisenden gehe ich in ein Restaurant am anderen Ende Bagans, groß, wie ein Dschungel dekoriert, mit Springbrunnen und Kellnern in Uniform. Mein Abendessen ist kleiner als das Mittagessen, der Tee kostet extra und ich bezahle neunmal so viel wie ein paar Stunden vorher. So viel zur Schere zwischen Arm und Reich.
Die Pagoden von Bagan bilden auch eine schöne Kulisse für Hochzeitsfotos
Ich habe übrigens keinen Reiseführer dabei, sondern die "Gebrauchsanweisung für Myanmar" von Martin Schacht, die ich nur empfehlen kann!

Martin Schacht
Gebrauchsanweisung für Myanmar
PIPER, 224 Seiten
überarbeitete Neuausgabe 2017
15 €

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