Eine Stadt und ihre Menschen
Wenn mich jemand mit einer lahmen Kuh um Rat fragen würde,
würde ich mir Diagnose und Behandlung nun schon zutrauen, so viele
Klauenbehandlungen haben wir inzwischen durchgeführt.
Und wenn es einmal nicht so viel zu tun gibt, dürfen wir uns
etwas aussuchen, was wir gerne üben möchten, zum Beispiel, wie man Kälbern, die
nicht saugen, Milch eingibt, wie man künstliche Besamungen durchführt oder
nochmal Ultraschall.
Trotzdem ist im Winter nicht so viel los in der Klinik und
nachmittags bleibt Zeit für Streifzüge durch Tartu, Wanderungen durch den
Schnee oder einen Wochenendausflug nach Tallinn.
Meine Estnisch-Lehrerin möchte mich persönlich kennen
lernen.
Erklärungsbedarf? Im Juni saß ich im Flugzeug neben einer
ungewöhnlich gesprächigen Estin, die mir eine Handynummer gab – ihre Freundin
gibt Sprachunterricht, auch per Skype. Estnisch-Lehrer sind in Deutschland
nicht so leicht aufzutreiben. So kommt es also, dass ich schon viel von Riina
gelernt habe, sie aber noch nie in echt gesehen habe.
Nach einer Unterrichtsstunde in dem Jugendzentrum bzw. der
Kirche, deren Räume sie nutzen darf, gehen wir zusammen Abendessen und
unterhalten uns über dies und das – auf Englisch, der Einfachheit halber.
Anschließend fährt sie mich sogar noch ins Kristiine-Viertel, wo ich
übernachten werde.
Über Couchsurfing habe ich Katrin gefunden, die noch zur
Schule geht, zwei Jobs hat – und in einem Kindergarten wohnt. Hier arbeitet sie
nicht, hat aber ein Zimmer zur Miete bekommen. Bad und Küche teilt sie sich mit
den Kindern, sodass ihre Esszimmermöbel sogar mir zu klein sind! Katrin hat
nicht nur ein ungewöhnliches Zuhause, sondern auch eine starke Meinung. Dass
das Verhältnis der Esten zu den in Estland lebenden Russen schwierig ist,
wusste ich ja. Viele sprechen immer noch kein Estnisch, obwohl sie ihr ganzes
Leben hier verbracht haben und finden es in Narva oder wo sie eben wohnen,
eigentlich gar nicht so toll. Warum gehen sie dann nicht einfach nach Russland
zurück?, fragen die Meisten. Ok, vielleicht weil es sich unter Putin auch nicht
so toll lebt. Aber Katrin versteht die Russen in Estland. „Als die hier ankamen,
waren wir ja Teil der Sowjetunion. Es war also genauso Russland wie eben Moskau
oder Sankt Petersburg. Und als es plötzlich hieß, das hier ist jetzt wieder Estland,
sahen die eben gar nicht ein, warum sie ihre Heimat jetzt verlassen sollten.
Und eine neue Sprache lernen sollten. Das hier ist deren Zuhause.“
Im Tallinner Stadtteil Mustamäe |
Katrin liebt russische Literatur und Musik, sie findet die
Sprache sehr poetisch. „Als Sowjet-Nostalgie würde ich das bei mir aber nicht
bezeichnen!“
Und ihr gefallen auch Mustamäe und Lasnamäe, die
wahrscheinlich dichtbesiedeltsten Stadtviertel Tallinns. Ein sowjetisches
Hochhaus reiht sich ans andere. „Alles sieht gleich aus, so viele Fenster,
Wohnungen, so viele fremde Menschen. Da kann man sich richtig verlieren. Man
merkt, wie unwichtig man als einzelne Seele in dieser Welt ist. Das kann so
befreiend sein!“
Bevor ich mich also mit meiner Freundin Emma treffe, die vor
kurzem wieder nach Tallinn gezogen ist, und das Kunstmuseum besuche, lasse ich
mich also ein wenig durch das graue Mustamäe treiben. Fast vierzig Prozent der
Bevölkerung hier ist russisch. Kinder mit Schlitten, alte Frauen mit Kopftuch,
junge Männer mit Plastiktüten aus dem Supermarkt, Teenager mit lauter Musik und
Kapuzenpullis. Wir alle gehen unter zwischen den Platenbauten im „Schwarzberg“,
wie es übersetzt heißt.
Wie groß ist der Unterschied in der Atmosphäre zu dem bunten
Kindergarten, in dem ich eben noch Ringelblumentee getrunken und Porridge mit
Beeren und Granatapfel gegessen habe – gesammelt hat Katrin fast alles im
Garten ihrer Großmutter. Und fast genauso groß ist auch der Unterschied zu
Kadriorg, dem schön dekorierten Stadtviertel mit seinen Villen und dem großen
Park, in dem sich das „KUMU“, das kunstimuuseum befindet. Katrin hat mir schon
von den dort ausgestellten
Installationen und Gemälden von Konrad Mägi und
anderen Malern erzählt. Ein paar Exponate schockieren den Besucher ein bisschen,
manche Videoinstallationen erzeugen nur ein großes Fragezeichen in meinem Kopf,
es ist laut, weil in allen Ecken Ausstellungsstücke Geräusche von sich geben.
Eines dieser Videos widmet sich auch der Beziehung der Esten zu den Russen, zu
anderen kennt Madis die Hintergrundgeschichte.Im KUMU |
Zwischen Kuhstall und Klinik, Wanderungen im Schnee, Tee vor
dem Kachelofen und gemütlichen Cafébesuchen mit Freunden genieße ich Woche drei
meines Praktikums in Estland.
Noch wissen diese Rinder nicht, was wir mit ihnen vorhaben... |
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