Fast daheim
Inzwischen wurde mir
schon mehrfach gesagt, ich hätte kaum einen Akzent, wenn ich Estnisch spreche. Klar
bin ich darauf sehr stolz, keine Frage. Aber es kann auch ziemlich nervig sein,
wenn man nur über sehr begrenztes Vokabular verfügt. Immer wieder muss ich im
Laufe eines Gesprächs die Sprache wechseln. „Vabandust, ma ei saa aru“ ist
einer meiner häufigsten Sätze – Entschuldigung, das verstehe ich nicht.
Ausblick von einem Arbeitseinsatz in Südestland |
Es kommt dann zu lustigen
Situationen, in denen mir beispielsweise die Leute nicht glauben, dass ich
nicht hier lebe. Mich weiterhin auf Estnisch zutexten, in einem Tempo, bei dem
ich dann nicht einmal mehr verstehe, worum es überhaupt geht. Oder sie halten
mich für komplett bescheuert.
„Hallo, ich hätte gerne
einen Tee, haben Sie grünen da?“, frage ich akzentfrei.
„Tut mir Leid, das nicht.
Aber Pfefferminze.“
„In Ordnung, dann nehme
ich Pfefferminztee. Und für ihn ein Alexander Bier.“
„Unsere Spülmaschine ist
kaputt. Darf ich es in einen Plastikbecher füllen statt in ein normales Glas? Wir
müssen sonst so viel per Hand abspülen.“
Verzweifelt gucke ich zu
meinem Kumpel Jaanus. Das einzige Wort, das ich verstanden habe, ist
"Spülmaschine". Er grinst und schüttelt den Kopf. Nein, weder wird er mir
übersetzen, noch selbst antworten. „Tell her!“, fordert er mich auf.
Nach dieser unangenehmen
Pause seufze ich und sage meinen Spruch. „Das verstehe ich nicht.“
Ja, diese Kellnerin hält
mich entweder für extrem ignorant oder ein bisschen durchgeknallt.
Einer der betreuenden
Tierärzte spricht ein wenig Deutsch und wir unterhalten uns während der
Behandlungen manchmal in einem dreisprachigen Kauderwelsch.
In der Klinik werden wir
Studenten von einem Patientenbesitzer nach dem Weg gefragt. „Sorry, we don’t
speak any…“, setzt die Finnin an, während ich gleichzeitig auf Estnisch
antworte: „Gleich dahinten.“
Hin und wieder werde ich
für eine Einheimische gehalten.
Und dann nimmt Madis mich
wieder zu seiner Familie in die Kleinstadt Tõrva im Süden, nahe der lettischen
Grenze mit. Großeltern, Eltern und drei der fünf Geschwister sprechen noch
weniger Englisch als ich Estnisch. Da wird mir wieder vor Augen geführt wie schlecht meine Sprachkenntnisse sind.
Wenn alle durcheinander reden, verstehe ich nur hin und wieder einzelne Wörter.
Wir spielen ein Spiel, bei dem sich alle schlapplachen und ich zwar weiß, worum
es geht, verstehe aber nicht, was genau da jetzt so lustig ist. Ich lehne mich
also immer wieder zu Karin, Madis‘ Schwester hinüber, die mir die Übersetzung
ins Ohr flüstert. Sie ist wie ihr Bruder nicht gerade stereotyp estnisch: sie hat
mich mit einer Umarmung begrüßt, obwohl wir uns zum ersten Mal begegnen.
„Könntest du dir
vorstellen, hier zu leben?“, fragt mich die Großmutter.
„Naja, wie sollte ich
Arbeit finden, wenn ich die Sprache nicht spreche?“, entgegne ich, was sich
aber eher so angehört haben muss: „Aber ich nicht Arbeit finde. Sprache nicht
spreche.“
„Du wirst es lernen!“
„Die Grammatik ist so
schwierig! Vierzehn…“ hilfesuchend blicke ich zu Madis. „Was heißt Fälle auf
estnisch?“
„Ach was“, sagt der
Großvater, „estnisch ist leicht. Im Ungarischen gibt es viel mehr Fälle!“
Tasuta - kostenlos |
Na dann.
Selbstverständlich haben sie auch ein Problem mit ihrem Hund, zu dem sie mich
fragen. Immer das Gleiche. Jemand hört, man studiert Tiermedizin und packt
sofort ein Problem aus. Dabei kann ich nicht behilflich sein. Ich habe in den
letzten Tagen schließlich nur Kälber kurz nach der Geburt untersucht,
Klauenerkrankungen bei Rindern behandelt und Trächtigkeitsuntersuchungen geübt.
Trotz aller
Kommunikationsprobleme erklären sich die Großeltern bereit, mich ein Stück nach
Tartu zurück zu nehmen. Der Bus von Tõrva nach Tartu fährt bekanntlich nur
zweimal täglich und ich habe ihn natürlich verpasst.
Sie setzen mich in Elva, etwa
auf halber Strecke, ab, von wo aus noch ein letzter Bus nach Tartu fährt –
einer der „Go“-Regionalbusse, die hier inzwischen meistens kostenlos sind.
Ich sagte ja bereits,
dass das Vertrauen in die Studierenden seitens der Dozierenden groß ist. Aber
auch die Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden ist viel geringer als in
Deutschland. Bei einer Weihnachtsgala, auf der alle in Abendgarderobe
erscheinen und die besten Dozenten sowie aktivsten Studierenden einen Preis bekommen,
finden sich alle zusammen auf der Tanzfläche wieder. Wir stoßen mit unseren
Lehrern an und sie tanzen mit ihren Studenten. Sogar auf die Afterparty in
einer Bar trauen sich noch ein paar der Professoren.
Was dazu führt, dass am
nächsten Morgen auf dem Weg zur Farm zwei unserer Tierärzte nicht fahrtüchtig
sind…
Und ein paar Tage später
laden wir unsere Betreuer dazu ein, auf einen Burger und ein Bier mit uns ins
Möku zu kommen.
„Das ist echt gutes Essen,
obwohl es vegan ist“, freut sich Andres, einer der jüngeren Tierärzte – und überredet
auch einen fleischessenden Kommilitonen, mitzukommen.
„Also ich fahre nach
Hause und esse ein paar Kühe“, lehnt Alar ab, der dienstälteste Tierarzt,
dessen Hereford-Rinder ich schon auf seinem Hof besucht habe.
Vier Studenten und ein
Tierarzt sitzen also abends in der Bar, essen veganes Junkfood und trinken dann
doch mehr als ein Bier.
„Und du wohnst also nicht
im Wohnheim?“, fragt Andres.
„Nein, ich bin bei einem
Freund untergekommen. Er hat mal hier gearbeitet.“
„Der Blonde mit den
Dreadlocks?“, fragt einer der Studenten, der schon Fotos gesehen hat. Ich
nicke.
„Redet ihr von Madis?“
Überrascht gucke ich Andres an. „Du kennst ihn?“
„Klar, ich war lange mit
seinem Bruder in einer Klasse! Wie geht es dem eigentlich? Und den Eltern?“
„Unglaublich! Du kommst
aus Tõrva?“
Wir reden ein bisschen
über die Kleinstadt und ich fühle mich verdammt einheimisch. Jeder kennt hier
jeden. Es ist einer der Gründe, warum ich Estland so liebe.
Und ja, alle duzen sich
und wir sprechen unsere Dozenten grundsätzlich mit Vornamen an.
Die Vabaduse (Freiheits-) Brücke wechselt ihre Farbe und wird daher im Allgemeinen nur "acid bridge" genannt |
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