Die Vier-Euro-Gurke: Einblicke in die estnische Lebensmittelindustrie





Ich werde oft gefragt, was ich an Estland so liebe und warum ich die Sprache lerne. Es macht Sinn, die Landessprache zu lernen, wenn man so viel Zeit in einem Land verbringt, oder nicht? Um die Frage zu beantworten, vergleiche ich oft Deutsch und Estnisch: Unterhalten sich zwei Deutsche übers Wetter, klingt es für Ausländer fast, als würden sie streiten. Streiten sich zwei Esten, klingt es, als lobten sie das gute Wetter (oder sie reden einfach gar nicht miteinander).
Was ich an Estland so mag, habe ich wahrscheinlich hier schon öfter erwähnt: Die Wälder und Moore, Schnee am Sandstrand, dass ich mit meinem Dozenten ein Bier trinken gehen kann und wir dann Neuigkeiten über unsere gemeinsamen Bekannten austauschen und dass Hierarchien zweitrangig sind. Dass wir mit nur zwei Autos von Tartu nach Tõrva trampen können und Madis eine Verbindung zu beiden Fahrern hat. Wie die Liebe zur Natur und die Liebe zur modernen Technik hier Hand in Hand gehen. Das Roggenbrot.

Frisch aus dem Ofen direkt in meine Stofftasche

Und natürlich, wie berühmte Musiker im Publikum neben ganz normalen Leuten sitzen, um sich Nachwuchsbands oder Dichter anzuhören.
Und so weiter.

Die zweite Frage, die mir dieses Mal oft gestellt wird, sei es auf dem Literaturfestival, in der Bar oder in der Arbeit: „Wie lange bist du schon in Estland?“
Das ist nicht so leicht zu beantworten.
Wenn wir dieses Gespräch auf Estnisch führen und ich sage: „Zwei Wochen“, passt es irgendwie nicht zusammen.
Aber „zweieinhalb Jahre“ stimmt irgendwie auch nicht, ich wohne ja nicht hier (auch wenn ich einen Wohnungsschlüssel habe).
Insgesamt vielleicht so sieben Monate also.
Ich erzähle ein bisschen vom ERASMUS-Programm, Viljandi Folk und Mittsommer, dass mein bester Freund bei Vikerraadio arbeitet und meine Betreuer realisieren, dass ich keine Chemie- sondern Tiermedizinstudentin bin. Dann wenden wir uns wieder dem Vorbereiten der Probe für die Analyse zu und um drei habe ich schon Feierabend.

Während dieser sonnigen Tage mit sehr angenehmen Arbeitszeiten, entdecke ich Ecken von Tartu, die ich bisher noch nicht kannte, fahre am Fluss Emajõgi entlang, einmal nach Osten, einmal nach Westen, wo Studenten mit Bier am Ufer sitzen und sich unterhalten, an Anglern vorbei und Leuten, die grillen, oder sich in Badesachen sonnen, oder sogar baden. Doch in beide Richtungen bin ich schon kurz nach dem eigentlichen Stadtzentrum alleine, und komme mir vor wie weit außerhalb. Bäume, Wiesen voller Löwenzahn, Infotafeln über die Fische im Fluss und hin und wieder kommt ein Boot vorbei. Ich entdecke sogar eine kleine Höhle in einer Sandsteinwand.
In der Küüni Straße, wo bisher immer eine große Baustelle war, ist die Küüni 7 fertig geworden, ein modernes Gebäude mit Coworking-Space und hippen Cafés. Die haben natürlich vegane Gerichte auf der Karte und Bambusstrohhalme im Sortiment.
Mein Lieblingscafé musste schließen.
Zum ersten Mal werfe ich auch einen Blick in die Universitätsbibliothek, deren Renovierung 2016 aus finanziellen Gründen auf Eis gelegt worden war, und die jetzt endlich fertig ist.


Und natürlich gehe ich auch wie immer in meine Stammkneipe Möku, um alte und neue Freunde zu treffen. Unter anderem Mihkel, mit dem ich noch nie eine Konversation hatte, die über zehn Sätze hinausging – aber wir freuen uns jedes Mal, wenn wir uns sehen.
Mal wieder ist auch mein Akzent überzeugend. Der Mann, mit dem ich mich unterhalte, während ich auf mein Getränk warte, wiederholt einfach nur, was er gerade gesagt hat, als ich zugebe, dass ich ihn nicht verstehe. „Nein, nein, ich kann nicht so gut estnisch!“, erkläre ich. Später spricht er mich nochmal an, und das Ganze geht von vorne los: „Sorry, das habe ich nicht verstanden.“
Er wiederholt seinen Satz mit den vielen Vokalen und komplizierten Endungen.
„Ich spreche immer noch kein Estnisch.“
„Ach, das war ernst gemeint?“
Ich runzle die Stirn. „Natürlich.“
„Oh, ich dachte das sei ein Scherz, weil du ja eigentlich sehr gut sprichst.“


Und Martin, ein berühmter Theaterschauspieler, sitzt in einer Ecke und mustert mich, halb Frage, halb schon Antwort. „Ja, wir kennen uns“, bestätige ich. „Du hast mir dein seltsames Kirschbier zum Probieren angeboten“, erinnere ich an unsere letzte Begegnung. Inzwischen ist es drei Uhr morgens, eigentlich wollte ich längst gehen, aber wie das eben so ist, wenn jeder jeden kennt… Kurz darauf erzähle ich Martin begeistert vom MALDI, diesem tollen Gerät, in das man eine mikrobiologische Probe ohne viel Vorbereitung schieben kann und das daraufhin innerhalb von Sekunden ausspuckt: Escherichia coli. Oder Salmonella spp, subtype not detected.
„Ich bin Wissenschaftlerin“, füge ich entschuldigend hinzu, denn der Schauspieler kann meine Begeisterung nicht ganz nachvollziehen.
Das Praktikum wurde tatsächlich mit jedem Tag spannender, und am Ende durfte ich selbst die Salmonella-Typisierungen durchführen, ELISA-Tests machen, bei denen Antikörper gegen bestimmte Viren nachgewiesen werden können, und Proben für die Analyse von Zuckergehalten in bestimmten Lebensmitteln vorbereiten.


Laborarbeit bedeutet immer eine Menge warten: Probe ansetzen, eine Stunde bei 37 Grad inkubieren (für Laien: stehen lassen). Einen Marker oder anderes Mittelchen hinzufügen, zentrifugieren, wieder eine Stunde warten. Filtern (warten) und in die Maschine einfüttern. Warten, bis diese gemessen hat (beim MALDI geht es schnell, aber PCR und HPLC brauchen mehrere Stunden – ah, die Abkürzungen! Man kommt sich ja so schlau vor, wenn man weiß, dass es für Polymerase-Chain-Reaction und High-Pressure-Liquid-Chromatograph steht und dann sogar noch, was das bedeutet!).
In diesen Wartephasen bleibt genug Zeit für Gespräche über das Management der Afrikanischen Schweinepest im Baltikum, Tollwutimpfungen an der Grenze zu Russland, und vor allem die estnische Lebensmittelindustrie.
Anfangs ist fast alles auf Englisch, doch mit der Zeit verbessere ich mich, bis am letzten Tag nur noch Estnisch mit mir gesprochen wird.
Viele der Lebensmittel, die hier im Labor untersucht werden, sind importiert. Laktosefreier Jogurt aus Finnland, Wodka aus Russland, Superfoods aus Italien.

In der Markthalle kann man wunderbar unverpackt einkaufen

Sogar saure Gurken gibt es ins mitgebrachte Gefäß, wenn man will

Estland importiert unglaublich viele Lebensmittel, was in vielen Fällen gar nicht (mehr) nötig wäre. Hanno aus der Abteilung für Instrumentalanalyse erzählt mir: „Die Gurke aus Estland kostet dann vier Euro und die aus Spanien zwei. Und so lange die Leute bereit sind, so viel für heimisches Gemüse zu bezahlen, wird sich der Preis auch nicht ändern.“ Andererseits: Wenn die Leute weiterhin spanische Gurken kaufen, wird auch weiterhin importiert, oder nicht? Ich sehe oft Zwiebeln aus Polen und Kartoffeln aus Lettland, dabei wächst beides hervorragend in Estland.
Bei Biolebensmitteln ist das Ganze noch extremer. Meine Kundenkarte für den Biomarket ist noch aktiv und ich stehe eine Weile vor dem Gewürzregal. Es kommt fast alles aus Deutschland (wo es ja auch nur verpackt wurde…). Endlich entdecke ich Chili, welches auf Saaremaa angebaut wurde. Sogar im Glas statt in der Plastiktüte. Für sechs Euro für diese fünfzig Gramm. Die Pflanzenmilch, die am wenigsten weit gereist ist, stammt aus Schweden. Neben Deutschland sind Schweden, Italien und Spanien die Hauptlieferanten für Biolebensmittel nach Estland. Erdnussmus, Glas von gleicher Größe. aus Deutschland: 4,55€. Hergestellt in Estland: 7,89€. Auch das neue vegane Eis von LA MUU, dem ersten estnischen Hersteller von Bioeis: satte 7,95€ für gerade mal 400g.
Ich bin derweil einfach glücklich, dass ich so viele Lebensmittel in Gläsern bekommen kann, die ich später nutze, um im Biomarket und im Maximarket aus Spendern Müsli, Linsen, und Nüsse abzufüllen.


Bei Muhu Pagar, meiner Lieblingsbäckerei, gibt es das gute schwarze Roggenbrot auch direkt aus dem Ofen in meinen mitgebrachten Beutel. Auf dem Weg zum Fahrrad beiße ich schon mal ab.
Natürlich reden wir auch über Milchbetriebe und Geflügelfarmen, über BSE, Salmonellen und Glutenintoleranz.
Und nach der Arbeit geht es zu Hause weiter damit, denn schließlich bin ich bei einem Journalistenpaar untergekommen. Karoliina hat grade eine Story über Lebensmittelverschwendung in Arbeit. „Wir haben gestern Abend geguckt, was bei KONSUM alles in der Tonne landet. Da sind diese Tüten mit Orangen; wenn eine schlecht ist, werden alle weggeworfen. Und Salate, deren Mindesthaltbarkeitsdatum noch fünf Tage in der Zukunft liegt! Dumpster-Diving ist wirklich eine Erfahrung, die die Augen öffnet!“

gerettete Lebensmittel - Foto: Karoliina A. Hussar

Am letzten Tag des Praktikums bringe ich einen Kuchen mit und schreibe dazu: „Dieser Kuchen ist vegan, laktosefrei, aber mit viel Gluten. Eine mikrobiologische Untersuchung habe ich nicht gemacht. Bitte Sensoriktest durchführen.“
Zum wahrscheinlich ersten Mal in meinem Leben habe ich die letzte Woche über wirklich auf Lebensmittelpreise geachtet. Hannos Vier-Euro-Gurke habe ich nicht gefunden.


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