Naljast kaugel: Ohne Witz jetzt
Es ist Frühling und die
Sonne scheint.
Vor vier Monaten reiste
ich von minus zehn Grad zu plus dreißig.
Jetzt geht es von
dreiundvierzig zu acht.
In den letzten drei
Wochen in Thailand war Chiang Mai mein Ankerpunkt, immer wieder landete ich
dort und jedes Mal ging ich ins gleiche vegane Restaurant, tauschte meine
gelesenen Bücher gegen ungelesene (aber ebenfalls gebrauchte) im selben
Buchladen aus und lernte interessante Leute kennen. Unter anderem eine
Klassenkameradin meines Bruders – ja, so klein ist die Welt: tausende Kilometer
von zu Hause treffe ich ein Mädchen aus dem Nachbardorf und wir haben sogar eine
„connection“!
Ich überlege erst, ein
Moped-Taxi zum Flughafen zu nehmen, entscheide mich dann aber doch für ein
Auto. Ich schaffe es durch die Passkontrolle, ohne meinen „overstay“ bezahlen
zu müssen (mein Visum ist vor drei Tagen abgelaufen), dann sitze ich wieder im
Flieger. Die Leute, die nur mit Handgepäck reisen, sind leicht zu erkennen, und
ich bewundere sie. Andere Fluggäste haben alles außer Handy und Portemonnaie
eingecheckt. Typisch asiatische Paare schieben sich durch den Gang: Mit vier
vollgestopften, großen Tüten aus dem Duty-free Shop. Da ist eine Frau mit einer
Tüte voller grünem Gemüse und eine andere mit vier Styroporbehältern mit Essen.
Ungefähr zwanzig Stunden
später, nach einem Tee in Helsinki, der ungefähr so viel gekostet hat wie
sieben Tassen in Thailand, bin ich wieder in Tartu, Estland.
Es regnet. Es ist kalt.
Es ist Frühling und
wunderschön.
Nur wenige Stunden später
ist auch die Sonne hervorgekommen, alles ist grün, die Luft ist klar und
frisch, und ich habe nicht nur einen Schlüssel zu Madis‘ Wohnung (wo so viele
Teilzeit-Mitbewohner ein- und ausgehen, dass er nicht sagen kann, wem was
gehört), sondern bin auch stolze Kurzzeitbesitzerin eines wunderbar klapprigen
und definitiv nicht verkehrssicheren Fahrrads.
Zwei Wochen werde ich
hier für mein Pflichtpraktikum in der Lebensmittelhygiene verbringen.
Frühling in Estland
bedeutet, dass am Busbahnhof eine Frau in Skijacke und Flipflops auf ihre
Tochter wartet. Dass zwei Freunde nebeneinander durch die Straßen laufen und
der eine Mütze und Mantel trägt, der andere kurze Hosen und T-Shirt.
Unter'm Baum mit Laptop: typisch estnisch eben |
Und die Sonne lässt die
Esten ganz komisch werden.
Eines Nachmittags sitze
ich am Flussufer, lese und genieße den Blick auf das schöne Tartu. Als ich
aufstehe, fragt mich ein älterer Mann, der auf einer Bank sitzt, wie es mir
geht, und lächelt mich an. Ich bin die, die mit dem Rad gekommen, ist, oder?
Und habe ich auf den Fluss rausgeguckt?
„Ja, es ist so schön!“,
antworte ich und suche nach Anzeichen für Alkoholismus oder Geisteskrankheit.
Esten reden nicht mit
Fremden.
Der Mann ist kerngesund.
Und Este.
Aber die Sonne scheint
und es ist Frühling.
Was natürlich auch noch
Einfluss hat, ist das Literaturfestival Prima Vista, das jährlich in Tartu
stattfindet. „Naljast kaugel“ heißt es diesmal, und ich würde das mal frei mit „Ohne
Witz jetzt“ oder „Weit entfernt von lustig“ übersetzen. Neben den Lesungen,
Diskussionen und Ausstellungen auf Estnisch gibt es auch einige Veranstaltungen
mit Autoren aus Österreich, den USA und dem UK. Ich höre mir eine dreisprachige
Performance von Daniel Wissen an und nehme an einem Dichtungs-Workshop mit Andy
Willoughby teil. Die Events sind, passend zum Motto des Festivals, alle ein
bisschen absurd.
Silver Sepp und andere
(un)bekannte Musiker treten im Park auf und als um zehn die Sonne untergegangen
ist, läuft im Open-Air-Kino „Seltsimees laps“, ein toller estnischer Film, der
sich mit den Deportationen nach Sibirien auseinandersetzt.
Ich bin nicht an so viele
Sonnenstunden gewöhnt: in Thailand ging von Anfang Januar bis Ende April die
Sonne immer ungefähr um halb sechs auf und abends um halb sieben unter. In
Estland im Mai ist etwa um fünf Sonnenauf- und abends um halb zehn
Sonnenuntergang.
In diesen Monaten in Thailand,
in denen ich erst lange Zeit die einzige farang
unter Thai war und dann plötzlich unter vielen Westlern, ist mir Eines ganz
stark aufgefallen: Westler lächeln nicht viel.
Aus Erfahrung kann ich sagen,
dass das auf die Esten voll und ganz zutrifft, sie antworten meist mit einem
irritierten Blick, wenn ich sie auf der Straße anlächle.
Nicht diesmal. Es ist
Frühling und die Sonne scheint. Und die Esten lächeln auch.
Foto: Uku Peterson |
Oder sprechen mich sogar
an.
„Der Autor ist echt
sympathisch, oder?“ Die Frau neben mir in der Lesung von „Königin der Berge“ lehnt
sich einfach zu mir herüber und wir unterhalten uns ein bisschen über die
deutsche Sprache und was mich nach Tartu verschlagen hat. Als wir uns beim
Gedichteabend mit Amir Darwish wiedersehen, grüßt sie mich mit einem Lächeln.
„Wie heißt der Film? Ist
der original estnisch? Ist er gut?“, fragt mich ein Mann, der sich beim
Open-Air-Kino mit seiner Frau neben mich setzt.
Und als ich am Samstag
zum „Vegan Brunch“ in Gengöök gehe (das findet jeden Samstag statt, ist es zu
fassen, dass dies mein erster Besuch ist?), sitzt Maria alleine an einem Tisch.
Ich erkenne sie vom Workshop wieder. „Darf ich mich zu dir setzen?“
„Natürlich!“
Da sitzen wir also, essen
vegane Köstlichkeiten, trinken Tee und reden, natürlich, über Literatur.
Nach diesem Festival
fühle ich mich irgendwie gebildeter und kreativer.
Das ist also der „Spirit
of Tartu“ von dem alle reden.
Natürlich gäbe es noch so
viel mehr zu erzählen, etwa von Jan, der mir sogar auf die Schulter tippte, um
hallo zu sagen und der Religion studiert, was für einen Esten noch seltsamer
ist als mit Fremden zu reden. Über eine Maschine namens MALDI in dem Labor in
dem ich mein Praktikum mache und einen Raum voller PCR-Geräte, die nach
Charakteren aus Shaun, das Schaf
benannt sind. Viel mehr noch über den Insomniacathon,
der von Ron Whitehead nach Tartu gebracht wurde und der bedeutet: 24 Stunden
nonstop Performance – Gedichte, Improvisationstheater, Musik. Ich war nicht 24
Stunden lang da, aber das, was ich gesehen habe, war unglaublich. Während
Gedichte vorgelesen wurden, machten Leute, die sich gerade erst kennen gelernt
hatten, die Musik dazu und am Ende des Events wurden die Gedichte vorgetragen,
die erst währenddessen entstanden.
Aber stattdessen wollte
ich euch noch ein paar Lektionen aus Thailand präsentieren:
1.
Lächle öfter.
Ernsthaft, wir müssen alle mehr lächeln.
2.
Plastik ist
überall. Du kannst ihm nicht entkommen. Strohhalme in Wasserflaschen, eine
Plastiktüte für die Packung Kaugummis im Supermarkt. Restaurants ohne Gläser,
nur mit Plastikbechern. Du musst schnell sein, um dem Kellner noch „ohne
Strohhalm“ zuzurufen, der Verkäuferin „keine Tüte!“, und meistens verstehen sie
dein Problem nicht und geben es dir trotzdem. Oder bieten dir eine größere Tüte
an. Selbst wenn du denkst, dass diesmal unmöglich Plastik dabei sein kann – sie
werden dir welches geben.
3.
Wenn du
denkst, Ameisen könnten vielleicht reinkommen, dann werden sie auch kommen. Leg
alle Lebensmittel in den Kühlschrank. Alle.
4.
Spontanität
bedeutet nicht, dass du keinen Plan haben solltest. Solltest du immer. Und
einen Plan B, selbst wenn der nur lautet: „Ich könnte auch einen Zug nehmen“
oder „Man könnte stattdessen auch das Bergdorf erkunden“.
5.
Sag ja.
Momentan scheint die Botschaft zu sein: „Du musst lernen, Nein zu sagen“. Das
mag ja stimmen, wir haben nicht die Zeit, alles zu erleben, nicht die
Fähigkeiten, alles zu machen. Aber um das Leben genießen können, müssen wir
auch JA sagen. Einfach mal so: Ja. Ja zu einem Abenteuer, zu neuen Erlebnissen
und Bekanntschaften, zu Allem, was außergewöhnlich und überraschend ist.
Menschen sind im Grunde alle freundlich und hilfsbereit – akzeptiere das, sei
dankbar, und nimm ihre Vorschläge an. Geh mit auf den Ausflug, besuch das
Event, probiere das Essen. Wenn du Ja sagst, wirst du neue Freundschaften
schließen, tolle Abenteuer erleben und unvergessliche Erlebnisse. Ich habe dazu
ja gesagt, dass mich Leute nach Hause fahren oder zum Abendessen begleiten, zu
einem Ausflug an einem abgelegenen Fluss und mir einen Smoothie mit der Frau am
Nachbartisch geteilt. Es tut einfach gut, spontan zu sein und Ja zu sagen.
6.
Es gibt kein
Lebwohl. Die Thai sagen immer „See you later“ oder „See you again“. „Goodbye“
ist fast so etwas wie „Auf Nimmerwiedersehen“. Also nicht sehr nett. Oder es
bringt Unglück. Während wir Europäer gerne große Umarmungen haben und allen
nachwinken, werden die Thai an deinem letzten Tag einfach nach Hause gehen wie
an jedem anderen auch. Das ist nicht unhöflich, sondern sogar höflicher als ein
großer Abschied. Eines Tages könntet ihr euch wiedersehen. Also verschreit es
nicht.
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