Wir wohnen in 110 Reykjavík
Der Wind pfeift mir um
die Ohren, die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich atme tief ein. Ist da Salz in
der Luft? Bestimmte Gerüche? Das kann ich nicht sagen. Für mich ist sie einfach
nur: sauber. Klar. Kaum zu glauben, dass ich noch vor einem Monat den Smog
Thailands eingeatmet habe, während mir der Schweiß über den Rücken lief.
Es ist still. Man kann
das Auto hören, das viele Kilometer entfernt die Schotterstraße hinunterbraust.
Da, irgendwo, nicht allzu weit weg singt ein Vogel.
Ich atme wieder aus und
nochmal tief ein. Das ist Island. Berge und Meer. Moos und Schnee. Saubere Luft
und kühler Wind. Lavafelder und schlafende Trolle.
Wir sind auf den Grábrok
geklettert, einen 3000 Jahre alten erloschenen Vulkan.
Als es uns zu viele
Menschen hier oben werden, steigen wir wieder in den Land Cruiser und fahren
weiter.
Nach der Fähre in die
Westfjorde geht es weiter zum westlichsten Punkt Europas, dem Látrabjarg
Vogelfelsen. Tausende von Möwen scheinen hier um uns herum zu fliegen, und auch
die ersten Papageientaucher des Jahres sind schon da und posieren für Fotos.
Gilt das überhaupt als westlichster Punkt Europas, wo wir uns doch auf der
nordamerikanischen tektonischen Platte befinden? Egal, es ist toll hier. Die
Sonne scheint immer noch, obwohl es bereits neun ist. Als ich heute früh um
halb fünf kurz aufwachte, war es ebenfalls schon hell, und wenn wir um halb
eins endlich ins Bett gehen, ist es auch taghell. Im Mai wird es in Island eben
nie dunkel. Ich stehe am Rand der hohen Klippe und stelle mir Grönland vor, da
hinten am Horizont, hinter den fernen Wolken.
Diese Nacht verbringen
wir vier in einem Gästehaus in Parteksfjördur, das so liebevoll eingerichtet
ist, dass man sich wie zu Hause fühlt. Vom Frühstücksraum aus hat man den
perfekten Blick über den Fjord, alle Gäste laufen in Socken herum. Alle duzen
sich. Auch so fühlt sich Island an.
Den nächsten Tag
verbringen wir wieder im Auto, auf Schotterstraßen immer am Meer entlang und an
Schafen vorbei. Auf und ab von einem Fjord zum nächsten. Nur wenige Häuser,
noch weniger Menschen fliegen vor unseren Fenstern vorbei.
Abends liegen wir
genüsslich im Hotpot, sehen dem Sonnenuntergang um kurz nach elf zu, nach
welchem es bekanntlich immer noch hell bleibt, und genießen die Aussicht auf
den Fjord vor unserem Hotel.
Ein beheizter Pool mitten im Nirgendwo |
Und dann sind wir schon
in Reykjavik.
In der Hauptstadt
Islands, deren Name „Rauchbucht“ wegen der heißen Quellen bedeutet, lebt
ungefähr die Hälfte der isländischen Bevölkerung.
Wir wohnen jetzt für zwei
Wochen in einem Airbnb in einer dieser Vorstädte, wo alle Häuser gleich
aussehen und wir deshalb auch am zweiten Arbeitstag in der Tierklink noch in
der falschen Straße auf und ab fahren.
Wir haben Fahrräder
gemietet und brauchen ungefähr zehn Minuten zu unserem Arbeitsplatz und eine
dreiviertel Stunde ins Stadtzentrum. Der Weg führt immer am Fluss entlang,
Fuß-, Fahrrad- und Reitverkehr laufen parallel und sind gut geregelt, am
Wegrand blühen in blassem Violett die Lupinen zwischen den kleinen Bäumen, auf
winzigen Inselchen im Fluss der Löwenzahn.
In der Klinik behandeln
wir hauptsächlich Hunde und Katzen, zwei Stunden am Tag findet aber auch die
offene Sprechstunde für Pferde statt. Bevor die Islandpferde den Sommer über in
die Berge kommen, nutzen viele Besitzer die Chance, sie durchchecken zu lassen.
Man reitet dann einfach zur nahegelegenen Klinik, vom Hof gegenüber werden die
Tiere auch einfach nur geführt. Trächtigkeitsuntersuchungen, leichte
Lahmheiten, und unspektakuläre Zahnkorrekturen. Diese Pferde sind eben zäher
als andere Rassen und werden meist artgerecht auf weitläufigen Weiden mit
Geröll, Hängen und Bächen gehalten.
Das Leben in Reykjavik
findet an der Laugavegur statt, einer dieser berüchtigten Straßen, die im
Winter geothermal beheizt werden, um Glatteis vorzubeugen. Hier reihen sich
Cafés und Bars aneinander, teilweise ist sie Fußgängerzone, zum Teil
Einbahnstraße. Abends wird hier mit dem Auto im Kreis gefahren, das ist hier
eine normale Beschäftigung für Freitagabende. Jedenfalls günstiger als in den
Bars etwas zu trinken.
Inzwischen ist jedes zweite
Schaufenster natürlich ein Souvenirgeschäft. Da immer noch die Sonne scheint
(langsam wird es ein bisschen gruselig, zehn Tage am Stück Sonne zu haben, in
Island!), setzen wir uns auf die Dachterrasse des Café Babalú, das gelb
angestrichene und kunterbunt eingerichtete Haus, das uns von einer der
Tierarzthelferinnen empfohlen wurde, und beobachten die Laute. Man kann
europäische Touristen sehr gut von amerikanischen unterscheiden, und wir machen
es uns zur Aufgabe, die Isländer zu erkennen, mit ihren bunten, oft etwas
verrückten Outfits und kreativen Haarschnitten.
Neben der Halgrímskirkja,
der lutherischen Kirche, die oben auf dem Hügel von überall aus als
Orientierungpunkt dient, stehen noch zwei wichtige Sehenswürdigkeiten auf
unserer Liste: das Phallusmuseum und das Kino von Villi.
Ja, in Reykjavík gibt es
ein Penismuseum, richtig gelesen. Hier werden Dekoartikel und Bilder zu dem
Thema ausgestellt, vor allem aber ist es die größte Sammlung verschiedener
Penisse, die bekannt ist. Für zwei Tiermedizinstudenten ist es nicht allzu
beeindruckend, muss ich sagen. Vermutlich würde unser anatomisches Institut
eine fast genauso große Sammlung zusammen bekommen, wenn sie mal den Keller
durchsuchen würde. Organe in Formalinbädern sind für uns auch nichts
Besonderes. Aber kurios ist es schon. Drei Ausstellungsstücke verdienen
Erwähnung: der Pottwalpenis, der ungefähr so groß ist wie ich, der Penis eines
Elfen in der Fabelwesenabteilung, den nicht jeder sehen kann (also für uns
jedenfalls sieht der Behälter leer aus) und der menschliche, der gespendet
wurde. Mehrere Schenkungsurkunden hängen schon daneben, von Männern, die ihre
Organe ebenfalls nach ihrem Tod dem Museum übergeben wollen.
Wer sieht den Elfenpanis? |
Das Red Rock Cinema hat mir meine Mutter empfohlen, die vor über zwanzig
Jahren hier war. Villi Knudsen zeigt hier seine selbstgedrehten Filme von
Vulkanausbrüchen. Sich zum Filmen gefährlich nah an die Naturschauspiele
heranzuwagen ist ein Hobby, das er bereits mit 13 Jahren von seinem Vater
übernahm. „So, you want a little Vorführung?“,
fragt er uns, als wir vor dem rot bemalten kleinen Haus stehen, in einer
Mischung aus Deutsch und Englisch, die er die nächsten eineinhalb Stunden über
beibehält. Inzwischen ist der 75-Jährige ein bisschen schwerhörig geworden und
bewegt sich langsam, stützt sich immer wieder ab. Er stellt sich vor, wir beide
sind die einzigen Besucher zur 15-Uhr-Vorstellung. Zeigt uns ein Foto seines
Vaters an der Wand, und kommentiert meine Haare: „I used to have rote Haare.“ Dann schaltet er das Licht
aus und der Film geht los, in dem er zeigt, wie er auf Ausbrüche wartet, sich
mit dem Hubschrauber nah an den Krater herantraut und wie die heiße Lava ein
ganzes Dorf auf der Insel Heimaey zerstört. Die Vorstellung ist kostenlos, und
die Katze Mokha („Sie mag Touristen“) sitzt erst zwischen den alten Kameras,
mit denen Villi in den Siebzigern und Achtzigern loszog, klettert dann über die
Stuhllehnen und verbringt den Rest des Films auf meinem Schoß. Und obwohl Villi
sich sicher nicht mehr an meine Mutter erinnern kann, fragt er noch, wie es ihr
geht, was sie jetzt macht, und ich solle sie doch grüßen.
nur ein verschwommenes Foto mit Villi... |
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