Was für eine Reise!
Was für ein Trip! Von
Trampen auf Färöer und Couchsurfing in Kopenhagen und Tallin ins Spa-Hotel in
Pärnu. „Du kannst doch trampen und trotzdem eine Lady sein!“, sagt meine
Freundin Emma.
Tatsächlich fühle ich
mich aber etwas fehl am Platze in Estlands Sommerhauptstadt. Eine Nacht in
einem Spa-Hotel in Pärnu zu verbringen ist recht weit oben auf der Liste
seltsamer Dinge, die ich in meinem Leben schon getan habe. „Kommt ein Hippie
mit Rucksack ins Wellnesshotel…“
Ich werfe meine
Dreadlocks in den Nacken und bitte um einen Termin für eine Schlammbehandlung.
Ist doch egal, dass die Rezeptionistin mich ihrer Kollegin gegenüber „Mädchen“
nennt, egal, dass ich den Altersdurchschnitt im Frühstücksraum morgens um
sieben deutlich senke. Ich habe ja auch
keine Ahnung, wie so eine Wellnessbehandlung funktioniert. Wann macht man die
Augen zu? Wie entspannt man sich?
Die Masseurin jedenfalls
findet mich ein bisschen komisch. Warum ich denn alleine nach Pärnu gekommen
sei? Ich hätte offenbar meine Freunde mitbringen müssen. Und keine
Schlammpackung in Pärnu, sowas macht man in Haapsalu!
Alles klar. Dann gehe ich
jetzt mal spazieren. Mit meinem Rucksack. In der bunten Hose. Barfuß. Heute
Abend werde ich wieder auf einem Sofa schlafen.
Meine Mutter hat Recht:
Wir sind nicht für Wellness-Urlaub geeignet.
In Kopenhagen ging es mir
besser. Außerdem machen die blödesten Erlebnisse die besten Geschichten, wie
wir wissen.
Wie viele von euch
wissen, ist mein Handy nicht das verlässlichste.
Trotzdem habe ich mich in
Dänemarks Hauptstadt voll und ganz darauf verlassen, klar. Die Handynummer
meines Gastgebers hatte ich eingespeichert, seine Adresse war in unserem
Chatverlauf, Google Maps hatte ich auch.
Immerhin habe ich einen
Blick auf die Karte geworfen.
Denn als ich abends im
Zug saß, Powerbank leer, und mein Handy nicht an der Steckdose der Bahn laden
wollte, merkte ich, wie unbedacht ich gewesen war.
Doch ich wollte noch
einen anderen Couchsurfer treffen, in Klampenborg, im Norden Kopenhagens. Wir
machen einen kleinen Spaziergang am Strand und setzen uns an ein
Mittersommer-Feuer, im Hintergrund ein Feuerwerk, hören den Wellen zu. Es ist
der längste Tag des Jahres, Jaanipäev,
wie ich ihn auf Estnisch nenne, sankthansaften
auf Dänisch, aber da ich nun schon südlicher als noch in Island und Färöer bin,
geht die Sonne bereits zwischen zehn und elf Uhr abends unter und für einige
Stunden wird es tatsächlich komplett dunkel. Wie der Bildschirm meines ach so
treuen Telefons.
Es ist erst Mitternacht,
als ich wieder im Zug sitze, und versuche alles, um mein Handy aufzuladen, aber
nein, ich bin am A… Verzeihung, ich stecke im…Kleister, sozusagen. Wenigstens
erinnere ich mich, wo ich aussteigen muss. Und jetzt? Keine Umgebungskarte am
Bahnsteig. Ich muss nach Westen, aber wo ist das? Und die Straße fängt mit
einem B an. Glaube ich.
Warum sind wir heutzutage
so vollkommen abhängig von unseren Smartphones und völlig hilflos ohne? Und
warum vertraut der Rest der Welt darauf, dass man ja eines dabei hat?
Zum Glück sehe ich auf
der anderen Straßenseite drei junge Frauen. Ich renne auf sie zu. „Entschuldigung!“
Hippie-Hose, zerzauste
Haare, zerknitterter Pulli, Rucksack. Misstrauisch mustern sie mich.
„Mein Handyakku ist leer…
Habt ihr vielleicht eine Karte? Wenn ihr mir die zeigen könntet? Ich bin nicht sicher, in welche Richtung ich muss…“
Die drei entspannen sich.
Ich will kein Geld und bin auch nicht gefährlich.
Eine von ihnen zückt ihr
Smartphone. „Wo musst du denn hin?“
Tja.
„Also der Straßenname ist
ziemlich lang und fängt mit B an…und ist von hier aus rechts unten auf der
Karte…“ Sie zoomt in die Gegend, wo ich heute Nacht schlafen werde.
Ich hatte es ja schon
früher erwähnt: Menschen sind eigentlich von Grund auf hilfsbereit und nett.
Wir unterhalten uns auf der Wegstrecke, die wir gemeinsam haben, dann zeigen
mir die Mädels, wo ich weitergehen muss, ich finde das richtige Haus, und mein
wunderbarer Gastgeber empfängt mich.
Und ich lade mein Handy
auf.
Drei Tage später bin ich
wieder daheim in Tartu, immer noch mit meinem Handy streitend, aber jetzt ist
es egal.
Das hier ist mein
Sommerurlaub.
Na gut, ich bin zwei Tage
in der Großtierklinik, um Kälber zu enthornen und Trächtigkeitsuntersuchungen bei
Kühen zu machen. Ich bin nun mal hier und die Tierärzte dort sind einfach so
gute Lehrer.
Aber tatsächlich habe ich
absolut keinen Zeitplan diese Woche.
Es macht ja nichts, dass
mich niemand erreichen kann, denn wer könnte gerade etwas Wichtiges von mir
wollen? Es stört mich nicht, dass ich Facebook und Instagram nicht checken
kann. Tut es eigentlich nie.
Es ist auch egal, wie
spät es ist. Ich esse, wenn ich Hunger habe. Wenn die Sonne scheint, sitze ich
am Fluss, beobachte die Leute oder lese. Wenn es anfängt zu regnen, gehe ich
rein und gucke einen Film an. Gehe in meine Lieblingsbar, wenn es dunkel wird,
und treffe alte Freunde und neue Bekanntschaften.
Ich habe einen Haus- und
Wohnungsschlüssel, einen Platz zum Schlafen. Ich brauche gar kein Handy.
Ich verstehe jetzt, was
so toll ist an einer „Staycation“ also einem Urlaub zu Hause.
Es bedeutet, dass man
alle Stecker ziehen und sich entspannen kann. Man muss nicht an all das denken,
was es zu erledigen gibt. Denn wenn man den Ort, an dem man Urlaub macht, schon
in- und auswendig kennt, muss man sich nicht wie sonst im Urlaub Gedanken
machen, wie man zum nächsten Supermarkt kommt, wann der Bus abfährt, die Post
zumacht und wie man wieder nach Hause findet.
"Ise tehtud Eesti" - aus der Ausstellung "selbstgemachtes Estland" |
Einfach mal nicht auf die
Uhr gucken, sondern seinen Wohnort genießen. In einem Café sitzen und Leute
beobachten. Diejenigen, die hierher gehören, und die, die es nicht tun. In das
Restaurant gehen, in das man immer hineinspäht, aber wo man noch nie gegessen
hat. An der Veranstaltung teilnehmen, die man nicht besuchen würde, wenn man am
nächsten Tag arbeiten müsste, obwohl sie interessant klingt.
Und egal, wie gut man
einen Ort zu kennen glaubt, es gibt immer etwas zu entdecken. Vielleicht ein
kleines Museum, von dem man noch nichts wusste, eine neue Ausstellung. Oder
kann es sein, dass du selbst noch nie bei der Attraktion warst, wo es alle
Touristen hinzieht? Dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt!
Für mich ist so etwas zum
Beispiel ein Bootsausflug auf dem Emajõgi, von Tartu bis auf den Peipussee, wo
wir zwei Stunden auf der kleinen Insel Piiri verbringen, ganz nah an der
Russischen Grenze und ich einen fürchterlichen Sonnenbrand bekomme.
Wenn kilometerweit keine Brücke ist... |
Ich verbringe ganz viel
Zeit mit einem Buch in der Hand und den Zehen im Wasser, erkunde das
Sängerfestivalmuseum und das Literaturmuseum.
Und schon geht es wieder
nach Tallinn, wo ich meine Mutter empfange. Wieder ein neuer Schlafplatz.
Und das größte estnische
Event.
Das Laulupidu, das Sängerfest, findet alle fünf Jahre statt, spielte
eine maßgebliche Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung und feiert in diesem Jahr
sein 150. Jubiläum. Ich kann dieses Festival nicht beschreiben, ich habe nicht
die Worte dafür, nicht die Bilder.
Kann nicht erzählen, wie
es sich anfühlt zwischen all diesen Menschen auf einer Picknickdecke zu sitzen,
wenn alle mitsingen und stolz die Fahnen schwenken. Ein Dirigent für all diese
Chöre, die da gleichzeitig auf der Bühne stehen. Alle haben Blumenkränze in den
Haaren, tragen Tracht. Ich bin fasziniert von allem, der Frau vor uns, die
Kreuzworträtsel löst, während sie der Musik lauscht, den Tänzern und Sängern,
dem Solisten vor all diesen Menschen. Dem Feuer, das oben auf dem Turm brennt,
das auf einer 4200 Kilometer langen Reise von Tartu durch alle Landkreise (maakonnad) Estlands bis hierher nach
Tallinn getragen wurde, zu Fuß. Von der Prozession der Chöre durch die
Hauptstadt. Von den Liedern. Und davon, wie gut alles funktioniert: Familien
finden sich, die unfassbar langen Schlangen vor den Toiletten bewegen sich so
schnell, als seien da vier Leute vor einem gewesen, nicht vierzig, die
Fressstände haben genug für alle – auch die Veganer.
1020 Chöre und Orchester.
Mehr als 35.000 Sänger und Musiker. 11.500 Tänzer und irgendwas um die 92.000
Zuschauer insgesamt. Das muss man sich einmal vorstellen: Ungefähr 3,5% der
Bevölkerung dieses Landes nehmen an dem Fest teil, und, wenn ich mal mit
Statistiken spielen darf, ungefähr 5% der ethnischen Esten. In Deutschland hieße
das 2,8 Millionen Sänger!
Ich kann es euch wirklich
nicht beschreiben. All diese Menschen, die Musik, die Emotionen.
Wer es nicht selbst
erlebt hat, das Laulupidu, der wird
es nicht verstehen.
Es ist ein großartiges
Ende für mein Reisejahr.
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