Überleben unter Akademiker*innen - Life in Estonia, Teil 2
Woran erkennt man eine deutsche Doktorandin an einer estnischen Universität? In meinem Fall ist es glücklicherweise nicht der Akzent.
1. Sie möchte eine Doktorarbeit schreiben, was Teil einer akademischen Karriere ist, zieht aber in Erwägung, danach wieder in die Praxis zurückzukehren (Wie? Warum?)
2. Sie hat bei jedem Wetter die falschen Schuhe an
3. Lächelt Fremde an
4. Tut sich schwer damit, Professoren direkt mit Vornamen anzusprechen
5. Wenn man ihr eine computerbezogene Frage stellt, gibt es drei Antwortmöglichkeiten: „Nein“, „Ja, aber noch nicht benutzt“ und „Was ist das?“
„Du denkst also, dass du als praktische Tierärztin arbeiten wirst, wenn du den PhD Titel hast? Ich halte das für sehr unwahrscheinlich“, sagt Tarmo, mein Betreuer.
„Naja, in Deutschland machen das die Meisten so…“ erwidere ich, „ aber wer weiß, vielleicht gefällt es mir ja auch, Wissenschaftlerin zu sein und Vorlesungen zu halten.“
Dann installiere ich drei Apps auf meinem Arbeitslaptop, die ich brauche, um mit Tarmo die nächsten vier Jahre über meinen Fortschritt zu kommunizieren und meine Arbeit zu struktirieren.
Aber von vorne.
„Acht Uhr ist zu früh“, hatte mein Doktorvater Toomas mir geschrieben, „komm doch um zehn, dann kannst auch direkt in den Statistikkurs für Doktoranden, den musst du dieses Semester sowieso machen.“
So stehe ich also am Dienstagvormittag vor seiner
Bürotür und habe keine Ahnung, was mich erwartet.
„Das hier ist der Schlüssel, und das dein Schreibtisch. Computer organisiere ich gleich.“ Der Professor zeigt auf den Schreibtisch neben seinem. Okay…ich werde also direkt neben dem Chef sitzen. Am Fenster.
„Und wir reden Estnisch, oder? Damit du dich sprachlich verbesserst?“
Ich nicke etwas unsicher. „Wenn ich was nicht verstehe, wechseln wir eben zu Englisch.“
„Gut. Also der Kurs ist gegenüber.“
Es zeigt mir die Tür auf der anderen Gangseite und ich suche mir einen Platz im Computerraum. Der Dozent betritt den Raum und ich muss erstmal blinzeln. Er hat grüne Haare. Zwischendrin hängen sieben schulterlange, dünne blonde Afrozöpfchen herunter. „Das ist Tanel“, stellt mein Doktorvater ihn vor und geht wieder.
„Ach, du bist die, die Toomas versteckt gehalten hatte? Heute ist unser dritter Kurstag, aber du
bekommst das sicher hin. Die Doktoranden von ihm sind ja immer gute Statistiker.“Ich schlucke nervös. Dann wechselt Tanel ins Englische und ich gucke den anderen Studenten dabei zu, wie sie ein sehr wissenschaftlich wirkendes Programm auf ihren Computern öffnen und den Anweisungen des Dozenten folgen. Ich verstehe kein Wort und mache hilflos Notizen.
Nach dem Kurs führt mein Doktorvater mich durch das Gebäude, in dem ich die nächsten vier bis fünf Jahre verbringen werde. Vieles kenne ich schon aus meinem Auslandssemester, aber jetzt darf ich den Pausenraum des Personals benutzen und ich werde jedem vorgestellt, der uns auf den Gängen begegnet. Wen davon ich mir nun wirklich merken muss, ist mir nicht ganz klar, aber die meisten scheinen über mein Auftauchen bereits informiert zu sein. „Ach, deine neue Doktorandin!“, begrüßt uns zum Beispiel Kaari, deren Verteidigung* ihrer Doktorarbeit ich bereits am nächsten Tag mitverfolgen darf. Wobei die Esten in diesem Zusammenhang nicht das Wort „neu“ benutzen, sondern „frisch“. „Ganz frisch.“ Mein Doktorvater nickt. „Heute aus der Quarantäne entlassen.“
„Ach, das ist deine Deutsche“, stellt Külli neben dem Kaffeeautomaten fest. „Was erforscht sie denn?“ Stolz sage ich mein Thema auf Estnisch auf: Neonataalperioodi mõju piimalehmade tervisele ja toodangule. (Mehr dazu später)
„Eigentlich müssen wir es ändern“, wirft der Prof ein. „Du wirst auch noch Lämmer untersuchen, deshalb ändern wir es von Milchkühen zu Neonatale Effekte auf Gesundheit und Leistung von Wiederkäuern.“
Oh je, schon wieder ein neues Wort.
Schließlich stehen wir vor dem Büro, das neben meinem eigenen das wichtigste für mich sein wird: „Das ist Tarmo, Tarmo, das ist Marina.“
„Hallo, schön dich kennen zu lernen. Sprechen wir etwa estnisch?“
„Naja… vorerst. Ich muss ja üben. Wenn ihr langsam und deutlich sprecht, geht es.“
„Benutz einfache Wörter“, ergänzt Toomas.
„Wie läuft das denn jetzt eigentlich? Müssen wir bald schon rausfahren und Proben ziehen? Oder was genau mache ich eigentlich?“
„Jetzt komm erstmal an und leb dich ein“, sagen die beiden Männer.
Tartus Mutter, sozusagen - der Emajõgi
Am nächsten Tag steht dann fest: Im Frühjahr soll
mein erster wissenschaftlicher Artikel erscheinen. Ich soll schon mal die
Einleitung schreiben, bis ich alle Daten habe. Tarmo stellt mir den Datensatz
zusammen, den ich dann statistisch auswerten muss. Jetzt komme ich ins
Schwitzen. Das ist schon bald. Da kommt viel Literaturrecherche auf mich zu.
Viel Statistik. Ich muss unfassbar viel lernen. Aber neben dem Umgang mit zwei
verschiedenen Statistikprogrammen und dem Finden von Artikeln, die sich mit
ähnlichen Themen beschäftigen, lautet die erste Lektion: Irgendwann muss man
auch aufhören. Sowohl mit der Recherche, denn es ist völlig unmöglich, alle
300.000 Artikel zu lesen, die sich irgendwie auf mein Thema beziehen und die
ich in meiner Arbeit zitieren könnte, als auch mit dem einzelnen Arbeitstag.
Theoretisch könnte ich die nächsten vier Jahre non-stop durcharbeiten. Und auch
dann wäre ich noch nicht fertig, denn am Ende jeder wissenschaftlichen Arbeit
steht ja: „Als nächstes müsste man noch untersuchen, wie…“
Ich bekomme meinen Arbeitslaptop, Internet in meiner Wohnung, und meine Möbel und mein Fahrrad. Natürlich kenne ich einen der Möbelpacker bereits von früher, wir sind ja in Tartu. Weil es noch überraschend warm ist, ziehe ich am nächsten Tag nicht mehr die dicken Goretex-Schuhe an, sondern einfache Sneaker – und natürlich regnet es. Also wieder die wasserdichte Variante – nur, dass es dann fünfundzwanzig Grad hat. Das Wetter und ich brauchen eine Woche, um auf eine Wellenlänge zu kommen. Und dann kann ich es einfach genießen, in Karlova zu wohnen, und den estnischen Herbst, Kastanien vor meinem Wohnzimmerfenster – Herbst in Estland ist einfach das Schönste, was ich mir vorstellen kann.
Raadimõisa Park - Blick aufs Nationalmuseum
Jeden Tag muss ich mich zwingen, irgendwann den
Computer herunterzufahren und die nächsten Paper
auf den nächsten Tag zu verschieben. Das Statistikbuch nehme ich übers
Wochenende mit nach Hause. Jetzt bin ich also Wissenschaftlerin. „So ein PhD
ist kein Spaziergang im Park“, sagt Tarmo. So viel ist klar. Aber ich habe das
Tiermedizinstudium überlebt. Die nächsten Jahre werden anstrengend werden, aber
irgendwie werde ich das schon hinbekommen. Hier laufen jede Menge Akademiker
herum, sie sind alle wahnsinnig lieb und sie leben alle noch.
*Die Verteidigung ist der Vortrag mit Fragerunde vor einem Komitee, nach dem entschieden wird, ob man für diese Arbeit wirklich den Doktortitel verdient hat, sozusagen die Abschlussprüfung des PhD-Studiums
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