Exkursionen – Life in Estonia, Teil 5
Zwei Stunden sind immer zwei Stunden, klar. Aber die Bedeutung kann unterschiedlich sein, je nachdem, wo man sich befindet. Eine zweistündige Autofahrt in Australien oder den USA ist ein Klacks. Wenn jemand in Deutschland zwei Stunden entfernt wohnt, ist es nicht allzu weit. Aber zwei Stunden mit dem Zug bringen dich durch halb Estland. Für die meisten Leute, mich inbegriffen, ist das also nichts, was man jede Woche auf sich nehmen würde. Um aber mal von der Arbeit und meinen inzwischen fast schon zu zahlreichen Hobbies wegzukommen und das Wochenende nicht zu Hause mit Gedanken an die Arbeit zu verbringen, mache ich mich an einem Freitagabend auf in die Hauptstadt.
Tallinn, sage ich immer, ist mir viel zu groß, auch wenn die Stadt schöne Ecken hat. Wenn ich über Hannover spreche, wo ich insgesamt über vier Jahre gelebt habe, rede ich von einer schönen kleinen Stadt, in der man überall mit dem Fahrrad hinkommt. Tatsächlich ist Tallinn mit seinen etwa 426.500 Einwohnern kleiner als Hannover (über 532.000 Einwohner). Wahrscheinlich entsteht der Eindruck dadurch, dass Tallinn nicht sehr fahrradfreundlich ist, alles mehr Platz in Anspruch nimmt (große Parkplätze, Gärten mitten in der Stadt, und natürlich dadurch, dass es die Hauptstadt ist, und das spürt man. Jedenfalls bin ich froh, dass mein alter Freund Madis mich am Bahnhof abholt und wir gemeinsam durch die Altstadt gehen können. Das historische Zentrum (vanalinn) ist ziemlich ausgestorben – denn momentan sind natürlich keine Touristen da. Vor allem der Rathausplatz (Raekoja plats) macht einen traurigen Eindruck, denn die Restaurants und Bars dort sind vor allem auf Touristen ausgerichtet. Wir finden eine gemütliche Bar in einer der kleinen Gassen, und auch die haben wir für uns allein. Madis lebt in einem Viertel ganz am Rande der Stadt, eine halbe Stunde mit dem Bus entfernt. Hier fühlt es sich fast dörflich an, jedes Haus hat einen Garten, die Straßen sind orange und gelb von den Blättern der Bäume. Arnold Rüütel, ehemaliger Präsident Estlands, hat vor kurzem ein Haus in derselben Straße gekauft und als Journalist findet Madis das natürlich besonders aufregend. Eingezogen ist Rüütel allerdings noch nicht. Als ich mich am nächsten Tag alleine ins Zentrum aufmache, um weitere Freunde zu treffen, kommt mir Tallinns Downtown vor wie der New York Times Square, so groß und modern ist alles – abgesehen von den sowjetischen Plattenbauten hier und da. Ich teste ein neues veganes Café mit Emma, gehe mit einem Bekannten lange am Meer spazieren und mit einem anderen beobachte ich abends die betrunkenen Russen in ihren Halloween-Kostümen. Für die Esten ist dieses Fest eher keine große Sache, aber die Russen in Tallinn nutzen die Gelegenheit als guten Grund für Alkohol. Und dann habe ich auch schon genug von der Großstadt und freue mich auf das gemütliche kleine Tartu.
Hier bin ich sowohl Studentin als auch Wissenschaftlerin. In einem Kurs diskutieren wir diesen seltsamen Zustand der Doktoranden – wir besuchen Vorlesungen, schreiben Tests, machen Hausaufgaben. Gleichzeitig arbeite ich eigenverantwortlich an meiner Statistik, lese wissenschaftliche Artikel, helfe meinem Chef bei verschiedenen Aufgaben und schreibe einen kleinen Übersichtsartikel für eine Konferenz. Und während das alles mit meinem ersten von drei Projekten meiner Doktorarbeit zusammenhängt, wird es langsam Zeit, das zweite Projekt im Detail zu planen, denn damit geht es im Frühling bereits los. Im Grunde werde ich an Schafen das Gleiche untersuchen wie momentan bei Rindern: wie wird das spätere Leben des Tiers durch Faktoren in der Säuglingszeit (bzw. im ersten Lebensmonat) beeinflusst? Der Fokus liegt dabei auf dem angeborenen Immunsystem. Für die Studie werde ich Blut- und andere Proben von Lämmern nehmen, ihre Gesundheit und ihr Wachstum während des ersten Lebensjahres beobachten und mithilfe statistischer Modelle die Zusammenhänge herausfinden. Unsere Forschungsgruppe hat bereits mehrfach mit einer Schaffarm in Südestland zusammengearbeitet, und dahin fahren wir nun: karu perses, wie mein Chef sagt, in den Bärenpo – also an den Arsch der Welt. Da sich der Hof im Karula Nationalpark befindet, ist das Wort „Bär“ sogar im echten Namen enthalten, was den Ausdruck doppelt passend macht. Auf der Fahrt durch die grau-braune, manchmal noch orange-gelbe Novemberlandschaft, die zunehmend hügeliger wird, unterhalten wir uns über die alltäglichen Kosten in Deutschland und Estland (kein besonders großer Unterscheid), Durchschnittsgehälter der beiden Länder (ein Professor der Tiermedizin in Estland verdient ungefähr so viel wie ein Tierarzt im ersten Jahr in Deutschland), dass man ein Auto braucht, wenn man auf dem Land wohnt, weil man sonst nicht einmal bis zum nächsten Supermarkt kommt, und vor allem über estnische Literatur. Meine Bücherwunschliste wird wieder einmal länger. „Du brauchst eine Balance, musst auch mal Intuitive Biostatistics und Epidemiologie in der Tiermedizin weglegen und Oskar Luts oder Andrus Kivirähk zur Hand nehmen!“ Wird gemacht, Chef.
Über einen Waldweg am Ende einer Schotterstraße ein paar Kilometer außerhalb des größten Ortes in Karula (bestehend aus einer Schule, einem kleinen Sportzentrum, einer Handvoll Holzhäuser, ein paar Plattenbauten und vor allem einem Tante-Emma-Laden) erreichen wir den Hof. Der Besitzer hat alles selbst gebaut, nachdem er die ersten Jahre im selben Gebäude wie seine Schafe gelebt hat, hat er jetzt ein Haus für sich und seine Familie, daneben wird gerade ein Saunahäuschen errichtet. Kinder spielen im „Garten“ rund ums Haus, die Schafe heben neugierig die Köpfe, als wir uns nähern. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass ein paar davon gar keine Schafe sind sondern Hunde mit derselben Fellfarbe. Sie schützen die Herde vor den Wölfen, erklärt der Schäfer, denn die sind in der Gegend ein echtes Problem. Diese Hunde leben, im Unterschied zu den Border Collies, permanent unter den Schafen und sollen sich quasi genauso fühlen – aber die Wölfe verjagen. Momentan ist auch ein Welpe dabei, der noch lernen muss, dass er weder Menschen noch Schafe beißen darf, nur Wölfe. Jetzt, im November und Dezember, ist Paarungszeit der Schafe (sogenannte „short day breeders“), und im April und Mai werden die Lämmer geboren. Dann werde ich hier leben und sobald wie möglich nach der Geburt die ersten Proben nehmen. „Ich erwarte ungefähr 500 Lämmer, in den ersten zwei Wochen sind es natürlich nur zwei bis vier am Tag“, erklärt der Besitzer. „Na dann kommt Ina für die zwei geburtenstärksten Wochen, das müsste reichen, um eine aussagekräftige Studie aufzubauen.“ Danach werden wir einmal wöchentlich vorbeikommen, um weitere Proben zu nehmen, und für den Rest des Jahres werden wir die Daten vom Schäfer erhalten. Nachdem man mir alles gezeigt hat, fangen die beiden alten Bekannten an, sich über andere Dinge zu unterhalten, etwa die anstehende Knie-OP eines der Hunde. Die Border Collies streiten derweil darum, wer jetzt von mir gekrault werden darf. Die Kinder freuen sich, dass eine Ausländerin bei ihnen wohnen wird, und auch der Chef scheint ein ziemlich cooler Typ zu sein, sodass ich mich schon auf zwei anstrengende, aber tolle Wochen hier freue.
„Warum guckt ein Professor morgens nicht aus dem Fenster?“, fragt der Schäfer grinsend. „Weil er sonst am Nachmittag nichts zu tun hat!“ Er lacht, und Toomas muss ihm Recht geben: „Ina weiß das…“ Er bezieht sich darauf, dass er ja meistens erst im Büro auftaucht, wenn ich schon Mittagspause gemacht habe. „Mein Job ist echt gut jetzt, aber es war ein langer und harter Weg bis hierher.“
Dann folgen noch, wenig überraschend, ein paar Naziwitze, die ich hier nicht wiederholen werde, in Estland aber keine große Sache sind (wie ich bereits ein paar Mal angesprochen habe). Es ist inzwischen dunkel, und mir wird in den Gummistiefeln trotz zwei Paar Wollsocken kalt, sodass ich froh bin, als wir endlich wieder ins warme Auto steigen. Ich kann es kaum erwarten, mit diesem Projekt durchzustarten, aber erstmal muss natürlich mein erster Artikel fertig werden!
Am Wochenende darauf mache ich eine dritte Exkursion – jedenfalls bezeichnet Julia den Ausflug so in ihrer Einladung. Die Freundin eines Freundes feiert ihren Geburtstag in einer Hütte im Wald, in der Einsamkeit am Ufer des Võrtsjärv Sees. Ein ganzes Wochenende mit einem Haufen Veganer, viel Essen, guter Musik, Sauna und interessanten Gesprächen – ich kann mir nicht vorstellen, was ich lieber machen würde.
Nachdem wir uns auf dem Weg dorthin verfahren haben, mehrfach im Matsch stecken geblieben sind (dreimal mussten wir das Auto aus dem Schlamm schieben), erreichen wir schließlich das Haus und eine typisch estnische Party beginnt. Der Vorrat an leckerem veganen Essen ist unendlich, manche Leute spielen Karten, manche tanzen, hin und wieder läuft jemand komplett nackt an allen anderen vorbei, um sich ein neues Bier in die Sauna zu holen. Der Kennenlern-Prozess ist, ebenfalls typisch, sehr langsam. Obwohl wir nur zu neunt sind, kenne ich am Sonntagabend immer noch nicht alle Namen, geschweige denn was alle so beruflich machen. Unsere Diskussionsthemen, angeregt durch ein spannendes Spiel oder durch Saunadampf, drehen sich unter anderem um die Frage, wie man mit dem Ego umgehen soll, was es bedeutet, sich um schwer kranke Familienmitglieder zu kümmern, ethische Aspekte von Tierversuchen, Gefängnisstrafen und Euthanasie, die Vor- und Nachteile von Religion in Gesellschaften, und Beziehungsfragen. So lernt man Leute schließlich am besten kennen: Smalltalk überspringen, Hüllen fallen lassen und direkt zu den wirklich wichtigen Themen übergehen!
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