Wir leben in einem kleinen Land - Life in Estonia, Teil 6

 


Ich hatte ja bereits erwähnt, dass eine zweistündige Autofahrt dich durch halb Estland bringt. Wo in anderen Ländern etwas „nur“ eine Stunde entfernt ist, macht das hier schon einen enormen Unterschied, der sich beispielsweis in verschiedenen Dialekten ausdrückt.

Das bedeutet, jeder kennt alle Orte, nicht so wie in Deutschland, wo ich erzählen muss, dass meine Eltern südlich von München wohnen, weil keine Sau Nußdorf am Inn kennt, wahrscheinlich wissen nicht mal alle Menschen aus demselben Landkreis, dass das Dorf mit seinen 2600 Einwohnern existiert. Dabei ist „südlich von München“ nur ungefähr so genau wie „Tartu ist nicht weit von Viljandi“. Tõrva, das auch etwa 2600 Einwohner hat, ist eine Stadt, und jeder in Estland kennt es und weiß, wo es liegt.  

Tõrva uuendatud keskväljak Foto Urmas Saard
Stadtmitte von Tõrva. Foto: Urmas Saard, külauudis.ee

Das ist also die geographische Seite der kleinen Größe. Es gibt nur zwei große Städte – die Hauptstadt Tallinn und die Universitätsstadt Tartu. Obwohl es inzwischen auch mehrere Universitäten in Tallinn gibt, ist Tartu immer noch DIE Stadt, in die alle zum Studieren ziehen. Für viele Studienfächer, etwa Forstwissenschaften, Medizin und Tiermedizin, ist es die einzige Möglichkeit in Estland. In den meisten Ländern kennen sich alle Tierärzte alle irgendwie, aber in Estland haben sie auch wirklich alle zusammen studiert. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit haben sie sogar alle im selben Wohnheim gelebt.

Aber mehr als die Fläche des Landes ist es die Einwohnerzahl, die Estland zu einem kleinen Land macht. 1,3 Millionen. Wenn ich sage, jeder kennt jeden, dann meine ich das auch.

Es wird oft gesagt: Du weißt du bist Estin, wenn die Freundin deines besten Freundes die Tochter deiner Englischlehrerin ist, die neben deinen Großeltern wohnt, die früher mit deinem Betreuer an der Uni zusammengearbeitet haben. 

Sängerfest 2019

Als ich das erste Mal mit meinem besten Freund per Anhalter in Estland unterwegs war, saßen wir in einem Auto mit einem Kollegen von ihm und einem anderen, in dem sich herausstellte, dass der Sohn des Fahrers zur selben Schule ging wie mein Freund.

Und als ich mit einem der Tierärzte aus der Klinik in Tartu darüber sprach, fragte er: „Hey, du meinst Madis?“ Woher er das wusste? Er war mit dessen Bruder in einer Schulklasse. Natürlich.

Eine Bekannte, die auch aus Deutschland kommt, arbeitet für die Exfrau meines Chefs. Und wo wir schon beim Thema sind: Das Thema Expartner nimmt in einem kleinen Land neue Dimensionen an. Die Wahrscheinlichkeit, in New York oder Berlin einem Ex nochmal über den Weg zu laufen, ist nicht besonders groß. In Tartu wird das definitiv passieren, früher oder später, selbst wenn man am anderen Ende der Stadt arbeitet, das Fitnessstudio wechselt und die Stammkneipe. Wie man Schluss macht, ist also relativ wichtig. Um ehrlich zu sein, es ist sogar vorstellbar, dass dein Ex mit einer deiner Freundinnen ausgehen wird. Oder dein Ex datet die Ex deines jetzigen Freundes und die beiden Paare begegnen sich dann eines Abends in einer Bar. Ja, diese Dinge passieren.

Man kann den Leuten nicht entkommen. Darum ist Höflichkeit umso wichtiger. „Man sieht sich immer zweimal“ ist in einem kleinen Land definitiv zutreffend. Madis achtet in allen Interviews darauf, im Guten mit dem jeweiligen Politiker auseinander zu gehen – schließlich wird er ihn mit ziemlicher Sicherheit noch einmal interviewen. Aber es stimmt für alle Menschen. Selbst, wenn du nie wieder an den Ort zurückkehrst, an dem du einer Person zum ersten Mal begegnet bist, ihr werdet euch wieder über den Weg laufen. In einem Café in Pärnu oder auf der Straße in Tallinn – wann immer du in Estland das Gefühl hast „Dich hab ich schon mal gesehen“, dann trau diesem Gefühl. 

  

„Gemeinsame Freunde“. Versuche, nachdem du ein Jahr in einem kleinen Land gelebt hast, jemanden von dort auf Facebook zu finden, mit dem du keine gemeinsamen Freunde hast. Es ist fast unmöglich. Du hast gemeinsame Freunde mit deinem Professor, deiner Ärztin, dem Tanzlehrer, dem Koch deines Lieblingsrestaurants, deinem Lieblingsmusiker. Und das ist kein reines Facebook-Phänomen. Als ich letztes Jahr meinen Kumpel Taavi kennen lernte, bemerkte er nach einer ganzen Weile, dass sein bester Freund momentan in Australien war. „Witzig“, sagte ich, „ein Kumpel von mir ist auch gerade dort, er kommt auch aus Tartu.“ Ihr werdet nicht überrascht sein, wenn ich jetzt sage, dass wir die gleiche Person meinten. Es ist gang und gäbe, wenn man sich mit neuen Leuten unterhält, nach den gemeinsamen Bekannten zu suchen. „Ach ja, meine Schwester arbeitet in derselben Firma wie dein Freund!“

Also das Sprüchlein, das mehr oder weniger ein Witz sein soll, ist tatsächlich wahr. Meine frühere Mitbewohnerin aus dem Wohnheim wohnt direkt neben meinem Kumpel Riho, dessen Eltern jahrelang die Nachbarn seines besten Freundes waren. Vor kurzem schloss ich Freundschaft mit einem Mädchen, das mir ständig über den Weg lief, und wir kamen schließlich darauf, dass wir nicht nur fast Nachbarn sind, sondern uns auch vor drei Jahren schon mal begegnet sind.

Promis genießen auch einen anderen Status als in größeren Ländern. Ich würde so gerne damit angeben, in einem Konzert einer Newcomerband mal direkt hinter Villu Talsi gesessen zu haben. Doch vor wem? In Deutschland weiß keine Sau, wer das eigentlich ist, und wenn ich es Esten erzähle, kommt eine Antwort wie „Aha, also ich war schon mit ihm in der Sauna.“ (Und ja, Talsi, der Mandolinenspieler der berühmten Band Curly Strings, und ich haben gemeinsame Freunde auf Facebook.) Als der Popsänger Karl-Erik Taukar für ein Interview im Fernsehstudio meiner Bekannten Linda war, sprach der Star die Redakteurin auf dem Flur an: „Du musst Linda sein, du kennst dich hier aus, wo finde ich den Kaffeeautomaten?“

Die meisten Promis scheuen sich nicht davor, Fotos ihrer Kinder auf Instagram zu posten. Die Follower haben sie schließlich schon in Echt gesehen. Paparazzi? In Estland? Wozu?

Und neben den „echten“ Berühmtheiten habe ich oft das Gefühl, dass jeder für irgendetwas berühmt ist. Der Fotograf, der einen wichtigen Preis gewonnen hat, der Sprecher einer Fernsehshow, die bekannteste Lehrbuchautorin, und so weiter. So ist das eben, wenn jeder jeden kennt, denke ich. Und statt nach einem Konzert Schlange zu stehen für ein Autogramm, kann man sich mit dem Sänger seiner Lieblingsband ganz locker unterhalten.

Übrigens ist auch jeder Ort für irgendetwas bekannt. Ich war noch in keinem anderen Land, das so viele Wegweiser für Sehenswürdigkeiten hat. Ein bekannter Dichter wurde in diesem Dorf geboren. Jene Kleinstadt hat ein ganz besonderes Museum. In diesem Dorf hat ein Schriftsteller ein paar Jahre lang gelebt, aber in jenem ist er begraben. Dieser Fels wurde von dem Volkshelden Kalevipoeg dorthin geworfen. Dieser Baum hat gewisse magische Kräfte. Natürlich hat auch jeder Flecken einen õppematkarada – einen Naturlehrpfad. Und deshalb gibt es nur zwei Arten von Reiseführern für dieses kleine Land: die 70-Seiten- „Tallinn, Tartu, zwei Inseln und zwei Nationalparks“-Sorte und die 500-Seiten-„und am Ende des Schotterwegs hinter der großen Eiche liegt ein Stein, auf dem Lydia Koidula sich einst auf einer Wanderung ausgeruht hat“-Art.



 

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