Einen ganzen Winter lang - Life in Estonia, Teil 7

Als ich mich vor genau fünf Jahren dazu entschied, mein Auslandssemester in Estland zu verbringen, war ich mir nicht einmal sicher, welcher der drei baltischen Staaten das überhaupt war. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Ich begann zu recherchieren und fand eine Dokumentation über Estland im Winter. Die Filmcrew zeigte das Leben auf einer der Inseln, mit Schafwollpullis, Sauerkraut und Kartoffeln, Musik und Angeln durch Löcher im Eis. Was mich daran faszinierte, war, wie die Crew auf die Insel kam: Mit dem Auto. Über das zugefrorene Meer, auf einer sogenannten Eisstraße (jäätee). Ich war begeistert – ich wollte auch auf einer Eisstraße fahren!

Dazu sollte es nicht kommen. Wie sich herausstellte, ist der Klimawandel auch in Nordeuropa angekommen und es wird nur noch selten kalt genug, dass die Eisschicht auf dem Meer ein Auto aushalten könnte. Es ist mein dritter Winter in Estland. Alle sagen, es hätte dieses Jahr besonders viel Schnee gegeben, aber ich erinnere mich an den Winter 2016, als wir auf dem Weg zum Peipussee in einen Schneesturm kamen, an den verschneiten Strand in Altja, die Eiszapfen an den Felsen im Meer… 2018 stapften meine Freundin Déna und ich auf unseren Wanderungen durch tiefen Schnee und ich überquerte den Fluss neben der Brücke auf einem Pfad, den die Menschen vor mir auf dem Eis geformt hatten. Dieses Jahr habe ich Schneebälle an alle meine Fenster und an den Kopf bekommen, bin ziemlich gut darin geworden, meine Wohnung mit dem Kamin zu beheizen, war auf dem Rathausplatz Schlittschuhlaufen und bin eine wahre Meisterin im Tiefschneefahrradfahren geworden. Ich habe die Art von Kälte erlebt, die Eiszapfen aus Wimpern macht, Haare mit Atemluft steif gefriert, Haut mit schmerzhaften roten Flecken übersät, Finger und Lippen blau werden lässt und Temperaturen, bei denen die Nase nicht mehr laufen kann, weil die Nasenlöcher zugefroren sind. Aber für eine Eisstraße war es nie lange genug kalt.


Ich wollte einen einzigen richtigen Winter in Estland, einen Eisstraßen-Winter. Und wenn es noch ein paar Jahre dauert – immerhin wohne ich jetzt hier. Einige meiner Freunde haben den Winter inzwischen satt. Sie sagen, ich solle erst mal einen ganzen Sommer hier verbringen, dann würde ich schon merken, dass der viel besser ist als der Winter. Ich liebe diesen Winter weiterhin. Obwohl er mich wahnsinnig macht. Es macht mich wahnsinnig, dass die Straßen so schön geräumt werden, aber niemand an die Gehsteige denkt, auf denen die oberste Schneeschicht taut und wieder einfriert, sodass es irgendwann lebensgefährlich wird, darauf zu laufen. Es macht mich wahnsinnig, dass die Sonne scheint und ich erst draußen merke, dass ich mich nicht für -19 Grad angezogen habe und am nächsten Tag schwitze wie ein Pferd, weil ich drei Paar Socken trage und Leggins unter der Jeans, es aber sechs Grad plus hat. Und am allermeisten treibt mich in den Wahnsinn, wenn es morgens taut, aber nicht die ganze dicke Schneeschicht, mittags regnet, auf den Schnee, und dann abends die ganze Stadt eine einzige Eisskulptur ist, sodass niemand weiß, wie er von der Arbeit wieder nach Hause kommen soll. „Fahren Sie nicht mit dem Auto, gehen Sie nicht zu Fuß“, heißt es im Radio. Selbst die Stufen unter dem Vordach der Uni sind spiegelglatt. Als ich den Parkplatz, der den ganzen Winter nicht geräumt wurde und jetzt ein unebenes Eisfeld ist, endlich überquert habe, sind es immer noch fast vier Kilometer bis nach Hause, auf Straßen, die für Schuhe nicht geeignet sind, aber die Schlittschuhkufen kaputt machen würden. Und natürlich ist die Schlittschuhbahn im Stadtzentrum an einem solchen Tag der einzige Ort, der nicht spiegelglatt ist, sondern matschig und uneben.


Aber es ist mein erster ganzer Winter in Estland. Mein erster estnischer Februar. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als den Schnee, der bei -15 Grad in der Sonne glitzert. Nichts Leckereres als vastlakukkled (eine Art Krapfen mit VIEL Schlagsahne, die man nur in der Faschingszeit bekommt, und ja, es gibt die Dinger in vegan). Nichts Cooleres, als auf dem Heimweg von der Arbeit schnell eine Runde Schlittschuh zu laufen.

vastlakuklid

Der Winter im Norden bedeutet, dass ich jeden Abend ganz romantisch ein Feuer im Wohnzimmer machen kann. Er bedeutet steifgefrorene Taschentücher in der Jackentasche. Dass Einkaufen zur Expedition wird, weil man so viele Kleiderlagen braucht (und Maske nicht vergessen!), und dass es normal ist, Skihosen anzuziehen, wann immer man das Huas verlässt (manche Leute nennen sie hier schlicht „Winterhosen“). Das Putzmittel für das Treppenhaus ist steinhart gefroren, weil es so nah am Eingang steht. Die Mülltonne bekommt man an manchen Tagen nicht auf, und ja, manchmal kämpfe ich auch mit dem Fenster. Meine Finger sind ständig taub und meine Haut ein Desaster.

Hier schreibe ich über die dunklen Zeiten: https://studyinestonia.ee/blog/how-survive-dark-especially-during-pandemic

Inzwischen werden die Tage wieder länger, die Weihnachtsbeleuchtung ist weg, und manchmal ist es noch hell, wenn ich die Uni verlasse. Ich muss mir jedes Mal sagen, dass das jetzt in Ordnung ist, weil ich trotzdem acht Stunden gearbeitet habe. An manchen Tagen tropfen die Regenrinnen und die Vögel zwitschern, und an anderen Tagen streckt der März uns die Zunge raus und ruft: „Der Winter ist noch nicht vorbei!“

Alles in Allem liebe ich diesen Winter. Auch wenn ich ihn manchmal hasse. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach, muss ich noch ein bisschen bleiben, wenn ich eines Tages auf einer Eisstraße fahren will.



 

Kommentare

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