10 Dinge, Die Ich An Dir Hasse
Seit Langem gibt es meine Liste mit zehn Dingen, die Estland besser macht als Deutschland, etwa die Pünktlichkeit von Zügen oder Glühwein (siehe hier), und seitdem sind mir noch viel mehr Dinge aufgefallen, die mich immer wieder glücklich darüber machen, dass ich hier lebe und nirgendwo sonst – etwa der Grad der Digitalisierung. Auch beim Impfen gegen Covid-19 geht es hier völlig nach Plan und ca. 44% der Bevölkerung haben bereits beide Dosen bekommen. (Quelle). Ich bin auch immer noch völlig begeistert davon, wie unkompliziert das Gesundheitssystem hier ist. Meine Informationen sind alle auf dem Perso gespeichert: Vorerkrankungen, digitale Krankenakte, Rezepte für Medikamente. Online kann ich alles einsehen und Arzttermine vereinbaren. Der Login ist dabei derselbe wie für alle bürokratischen Angelegenheiten – Online-Banking, Auto registrieren (ja, auch das geht von Zuhause aus und dauert etwa 5 Minuten), Reisepass beantragen, und so weiter. Onlinebanking ist hier nicht nur super einfach und trotzdem sicher, es geht auch unglaublich schnell. „Habe das Geld gerade überwiesen“, simse ich meiner Vermieterin. „Schon gesehen“, antwortet sie sofort. Na gut, wenn der Empfänger sein Konto bei einer anderen Bank hat, kann es schon mal zehn Minuten dauern.
Wie ihr seht, könnte ich inzwischen auch „Zehn weitere Dinge, die ich an Estland liebe“ schreiben, aber ich glaube, dass ich Estland mag, wird auch so relativ klar. Ich mache so gut Werbung für das kleine Land, dass ich bereits erklären musste, dass Estland nicht stinkreich ist und deshalb einfach besser digitalisieren kann als Deutschland (hier).
Aber niedriges Einkommen, Alkoholismus, Armut... das sind Dinge, über die ich hier höre, hin und wieder zu sehen bekomme, aber ich kann schlecht über Sachen reden, von denen ich eigentlich keine Ahnung habe. Stattdessen habe ich seit jenem “Zehn Dinge“ Post einen weiteren in Planung: zehn Dinge, die mich an Estland stören, die mich persönlich immer mal wieder wahnsinnig machen. Um es kurz zu machen: Ich komme einfach nicht auf zehn. Vielleicht werde ich das irgendwann, wenn ich lange genug hier lebe. Aber momentan geht einfach nur das:
Zehn Dinge, an die ich mich nie gewöhnen werde
Oder: Zehn estnische Kulturschock-Momente
1. Aller Anfang ist schwer.
Mit dem magischen Perso stehen einem in Estland alle Türen offen. Aber ohne – ist man aufgeschmissen. Man kann sich nicht beim Straßenverkehrsamt einloggen, um die eigenen Daten einzusehen (Unfälle, Fahrzeuge, Führerscheinstatus), man hat keinen Zugriff auf die Krankenakte und kann daher auch keine Medikamentenrezepte ausgestellt bekommen. Und auch für viele Verträge braucht man mindestens die Personennummer „isikukood“, die man bei der Beantragung des Perosnalausweises zugeteilt bekommt. Ohne diese Nummer kann man keinen Mietvertrag unterschreiben, bekommt keinen Handyvertrag, keine Versicherung. Bei der Beantragung des Ausweises muss man einen ganzen Stapel Papiere dabei haben und ein Passbild – nur um dann dort gesagt zu bekommen, dass man es doch hier direkt aufnehmen lassen muss. Und dann heißt es warten, mindestens zwei bis vier Wochen, bis man endlich den Perso bekommt und ein Bankkonto eröffnen kann. Und ohne estnisches Bankkonto gibt es kein Gehalt oder Stipendium und man kann Online nichts bezahlen (Kreditkarte ist oft nicht möglich, Überweisungen bei Onlinestores werden selten angeboten, PayPal nutzt niemand, fast alles funktioniert über den „Banklink“, was wunderbar einfach und sicher ist, wenn man denn mal ein estnisches Bankkonto hat...). Aber wenn man den ersten Monat überstanden hat und die kleine Karte und die zugehörigen PINs endlich in der Hand hält, ist alles möglich. Selbst Kundenkarten sind einfach auf dem Perso gespeichert.
2. Warm oder schön.
Nein, ich rede hier nicht von Winterjacken, fetten Stiefeln und langen Unterhosen. Ich meine Wohnungen. Wie überall auf der Welt muss man sich natürlich entscheiden: Stadt oder Dorf, Nähe zum Arbeitsplatz, gibt es Parkplätze, welches Stadtviertel gefällt mir, soll das Zimmer möbiliert sein und so weiter. Aber in Estland landet man letzten Endes bei der grundlegenden Frage: will ich eine warme Wohnung oder eine schöne? Holzhäuser mit hübschen Wohnungen in den netten Stadtviertelen sind alt. Die Wände sind dünn, die Fenster undicht, geheizt wird mit einem Kachelofen. Das ist charmant, bedeutet aber natürlich auch mehr Arbeit. Und wenn man in die kalte Wohnung kommt, muss man erstmal ein bis zwei Stunden abwarten, bis es warm wird. Feuer anmachen und wieder gehen, das funktioniert natürlich nicht. In manchen der alten Wohnungen gibt es auch noch keinen Elektroherd, sondern man kocht auch über dem Feuer. Die Wohnungen mit Zentralheizung sind entweder für normale Menschen unbezahlbar oder sie wurden in den 80ern gebaut. Hässliche, große Plattenbauten mit vier Eingängen,fünf bis neun Stockwerken, in denen jede Wohnung genau gleich aussieht. Und Zentralheizung heißt hier wirklich zentral: es gibt in den Wohnungen keine Thermostate. Im Oktober wird die Heizung angemacht und im März wieder aus. Wenn dir zu warm ist, mach die Fenster auf. Ist dir zu kalt, zieh dich wärmer an.
3. Laub in Plastiksäcken.
Ich kenne das nur aus Tartu, habe aber gehört, dass es auch an andeen Orten ein Problem ist. Wer möchte denn schon, dass im Herbst die Gehsteige voller raschelndem orangenen Laub sind? Oder die Blätter nutzen, um Beete winterfest zu machen oder das Laub kompostieren? Also wird es aus den Gärten und von den Straßenrändern zusammengekehrt und in Müllsäcke gestopft. Die stehen dann vor den Häusern und werden irgendwann von der Müllabfuhr eingesammelt.Ich werde das nie verstehen.
4. Das Problem mit den Regenrinnen.
Ich sehe den Sinn von Regenrinnen. Absolut. Aber im Ernst, Estland, das ist deine Lösung? Das Regenrohr einfach auf dem Gehweg enden lassen, sodass alles Wasser sich dort sammelt, über Nacht festfriert und am nächsten Morgen den Gehsteig in eine tödliche Falle für Fußgänger verwandelt?
5. Der einsame Kinderwagen.
Als ich den Kinderwagen meiner Nachbarin zum ersten Mal einsam vor dem Schuppen stehen sah, dachte ich, dass sie wahrscheinlich erst die Einkäufe und das Kind reinbringt und dann den Kinderwagen, der normalerweise imTreppenhaus steht, oder so. Fast jeden Tag begegnet mir der einsame Kinderwagen draußen, und nie denke ich mir viel dabei – bis ich eines Tages das Baby höre. Meine Nachbarin hat ihr Kind einfach in der Kälte abgestellt und ist alleine zurück in die Wohnung gegangen. Soll man nicht mit dem Kind spazieren gehen? Friert es nicht? Aber wie sich herausstellt, ist das eine gängige Praxis. Das Kind bekommt frische Luft, ohne dass die Elternhände frieren. Ob sich der Kinderwagen bewegt oder nicht, macht für das Baby ja kaum einen Unterschied. Neben ihm liegt das Babyfon, wenn es schreit, kommt die Mutter angerannt, aber für eine Stunde oder so haben die Eltern im Haus ihre Ruhe. Und was soll schließlich passieren? Und selbst jetzt,wo ich weiß, dass das ganz normal ist, macht mich der einsame Kinderwagen hinter dem Haus immer ein bisschen nervös.
6. Keine Adresse.
Ich habe mich ja bereits öfter darüber beschwert, dass Pakete und selbst Großbriefe nicht ankommen, wenn nur die Adresse drauf steht, aber nicht die Telefonnummer. Nur die großen Sowjetblockhäuser haben Klingeln, in den meisten Fällen muss der Paketbote mich anrufen können, damit er mir meine Post in die Hand drücken kann. Aber auf dem Land kommt noch etwas dazu: Viele Häuser haben einfach keine Adresse. Sie haben Namen. In einem Dorf, in dem der nächste Nachbar einen oder zwei Kilometer weit weg wohnt, viele Straßen nur ein einziges Haus haben, sind Hausnummern ja auch nicht wirklich nötig. Wie findet man so einen Ort allerdings, wenn man noch nie dort war? Google Maps führt dich nur bis zu dem Dorf. Dann brauchst du eine Wegbeschreibung wie „nach dem See macht die Straße eine Rechtsbiegung, und nach dem modernen Haus musst du links abbiegen. An der großen Eiche geht es dann rechts…“ und natürlich kann man sich durchfragen, wenn man denn jemandem begegnet. "Hey, wo ist denn das Haus von der Tali-Familie?“ – „Geradeaus, gleich hinter dem nächsten Hügel!“
7. Estnische Badezimmer.
Manchmal denke ich, ich habe mich daran gewöhnt. Aber dann komme ich wieder in meine renovierte Wohnung – immer noch mit undichten Fenstern und Heizen mit Ofen, aber schon Elektroherd und „normalen, westlichen“ Badezimmer –zurück und merke – nein, immer noch nicht so ganz. Estnische Badezimmer sind einfach anders als Westeuropäer es gewohnt sind, vor allem, weil sie überall anders sind. Es gibt kein „Standardbadezimmer“, und wenn doch, dann dieses: Ein Kämmerchen mit dem Klo, ein Kämmerchen mit der Dusche. Hände waschen und Zähne putzen? Ab in die Küche. Als ich das erste Mal in so einer Wohnung war, bin ich ziemlich verwirrt durch die Wohnung gelaufen, habe meine Hände schließlich in der Küche gewaschen und festgestellt: Hier sind auch die Zahnbürsten und Rasierer. Neben dem Spülmittel steht ein kleiner Spiegel. Und weil viele Esten mit diesem System aufgewachsen sind, gibt es Leute, die ein Waschbecken im Bad haben, ihre Zähne aber immer noch in der Küche putzen. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum ich das so komisch finde. Eine zweites sehr häufiges System findet sich auf dem Land: das „Trockenklo“. Davon gibt es verschiedene Arten, und oft ist es halt ein Häuschen im Garten. Dusche gibt es keine, man hat schließlich eine Sauna. Wenn so ein Haus modernisiert wird, dann häufig mit einem Abwassertank, der alle paar Monate entleert werden muss. So landet man dann oft in Badezimmern, in denen man gebeten wird, Toilettenpapier in den Mülleimer zu werfen statt ins Klo. Auf unserer Farm in Karula gibt es so ein westliches Badezimmer mit dem „Papieri n den Mülleimer!“-Schild, das Plumpsklo neben dem Stall ist aber auch noch in Betrieb. Plottwist: In der Küche gibt es kein warmes Wasser, daher waschen wir das Geschirr oft im Bad!
8. Moskitos.
Estland ist eben im Norden. Und während die Meisten sofort an lange, kalte und dunkle Winter denken, an Schnee und wunderschöne Wälder, sowie an Sommertage, an denen die Sonne fast gar nicht verschwindet, es bedeutet auch: was man aus Südeuropa als Mückenplage kennt, ist ein Witz. Einmal zum Schuppen und zurück heißt hier im Sommer, von Kopf bis Fuß mit Mückenstichen bedeckt zu werden. Aufzuschauen und eine schwarze Wolke näher kommen sehen, und bevor man sich fragen kann, was das eigentlich ist, haben die Mücken einen schon aufgefressen. Gewöhnt man sich jemals daran?
Ihr seht schöne Natur, ich sehe Mückenstiche. Foto: Sven Zacek |
9. Das Haus ist niemals fertig.
Landleben ist eine Herausforderung. Ein Haus auf dem Land zu bauen und in Schuss zu halten ist ein Lebenswerk. Je idyllischer man wohnt, desto mehr muss man selber machen – es gibt keine Handwerker oder Baufirmen in der Nähe, man hat nur Nachbarn und Freunde, die helfen können. Kaum jemand baut sein Haus als Vollzeitjob – aber wenn man nebenher seiner normalen Arbeit nachgeht, dauert es natürlich länger. Die Leute leben seit zehn Jahren in einem Haus, aber manche Räume sind immer noch nicht fertig. Die Kleider liegen in einem Stapel auf dem Boden, weil es keinen Schrank gibt. In den ersten Stock führt nur eine Leiter. Der Balkon hat kein Geländer. Und natürlich die Sache mit dem fehlenden Badezimmer. „Erstmal brauchen wir ein neues Trockenklo, dann können wir das Badezimmer bauen. Und wenn die Treppe endlich fertig ist, kümmern wir uns um den Balkon.“ Aber in der Zwischenzeit muss auch ein neuer Boiler her, die Haustür ist schon kaputt, das Dach muss repariert werden. Dringendere Projekte werden eingeschoben, das Geld geht aus. Bis man fertig ist, muss man schon wieder von vorne mit den Reparaturen anfangen. Mit dem Hausbau auf dem Land ist man nie fertig. In diesem Ausmaß ist es für mich neu, und ich sehe das auch als eine der Botschaften auf dem estnischen Literaturklassiker „Wahrheit und Recht“: ein Mann verbringt sein ganzes Leben damit, ein Haus, einen Hof aufzubauen. Und am Ende des Lebens ist er immer noch nicht fertig. Mehr Kinder bedeuten mehr Hilfe bei der Arbeit, aber auch: mehr Essen heranzuschaffen, mehr Kleider zu flicken, mehr Betten zu bauen.
10. Morgen.
Sind es meine deutschen Gene? Oder ist es mein persönliches Problem? Von anderen Einwanderern habe ich gehört, die Esten seien immer so pünktlich. Ja gut, verglichen mit Ägyptern und Italienern vielleicht. Ich hingegen werde nervös bei all der Warterei, oder sogar wütend. Ich hoffe, dass sich meine innere Uhr irgendwann an die estnische Zeit anpasst. Aber es hört ja nicht bei den unterschiedlichen Auffassungen von „sechzehn Uhr“ auf. Wenn die Esten sich mit „homseni“ – „bis morgen“ verabschieden, meinen sie nicht unbedingt morgen, sondern eher „bis irgendwann mal“. Wenn mein Statistik-Professor sagt „Ergebnisse gibt es bis Donnerstag“, meint er nicht in drei Tagen, sondern an einem Donnerstag in drei Monaten. Wenn estnische Dozenten „morgen“ sagen, kann das bedeuten „morgen“, „übermorgen“, „nächste Woche“ oder „nächsten Monat“. Ja, eins steht fest, man bekommt seine Antworten, Ergebnisse usw. ganz sicher. Die Frage ist eben immer. Wann?. Und wenn Esten zu mir sagen „Na dann los“, weiß ich, ich habe noch etwa zehn bis zwanzig Minuten, bis ich mir wirklich die Schuhe anziehen muss. Und die deutsche Perfektionistin in mir wird sich daran wohl nie gewöhnen.
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